Fliehganzleis
Herz, von einer Anzeige gegen unbekannt abzusehen. Was er mir durch die Blume damit sagte, war: Es würde nicht viel dabei herauskommen. Es gab einfach keine Anhaltspunkte. Stattdessen würde es ihm und seinen Kollegen nur Arbeit aufhalsen.
Ich begleitete den Uniformierten nach draußen und sah dem Streifenwagen nach, bis er nach Ohlkirchen abbog.
Die Luft war warm, roch nach Heu und Sommer. Der Himmel glänzte blau wie Muranoglas.
Ich ging zurück ins Haus, nahm drei Schmerztabletten, schlüpfte in alte Jeans und Gummistiefel und stapfte zum Gänsefreilauf hinauf.
Ich mistete aus, streute frisch ein, säuberte die Futterkiste und schleppte einen neuen Sack Futterkorn aus dem Keller. Anschließend reinigte ich den Teich, grub eimerweise schleimige Wasserpflanzen aus und schnitt das wuchernde Schilf zurück. Währenddessen redete ich ohne Unterlass mit Waterloo und Austerlitz, zu deren Vorzügen es gehörte, dass sie mich weder analysierten noch für verrückt erklärten. Ich sang ›There’s Whiskey in the Jar‹, während ich den Zaun am Freilauf abging und brüchige Stellen mit Resten von Maschendraht ausbesserte. Auf keinen Fall wollte ich nachdenken, und wenn mir die Shantys ausgingen, würde es andere Songs geben, deren Texte ich noch irgendwo in der Dunkelkammer meines Hirns verwahrte.
Die Spätsommersonne brannte mir auf den Pelz, als ich den Rasenmäher hervorholte, betankte und das Gras auf meinem Grundstück zurechtstutzte. Schließlich harkte ich die Abfälle zusammen und kippte sie auf den Komposthaufen. Als ich fertig war, schob sich von Westen her eine grauviolette Wolkenwand in meine Richtung.
Ich kehrte die Kellertreppe und pinselte ein neues Namensschild für meine Tür. Noch während ich es annagelte, begann es zu regnen. Feine Tropfen rieselten auf den Wald, die Hügel und mein kleines Zuhause herab. Der Duft nach nasser Erde durchdrang die Luft. Ich beobachtete Loo und Litz, die ihr ausgemistetes Revier neu in Besitz nahmen, und fühlte mich zum ersten Mal seit Langem ausgeglichen.
43
Ich saß mit einer Tasse schwarzem Kaffee unter dem Vordach auf den Stufen und lauschte dem Regen, als ein zitronengelber Twingo, von Ohlkirchen kommend, die Straße heraufzockelte und in meine Einfahrt bog. Ich war noch nicht dazu gekommen, die Auffahrt zu pflastern, und so wühlten sich die Räder des Autos durch die aufgeweichte Erde.
Erst einige Wochen später, als Larissas Buch geschrieben war, analysierte ich, warum mich meine Besucherin nicht besonders überrascht hatte. Wahrscheinlich war ich im Grunde meines Herzens überzeugt gewesen, dass die Geschichte neue Schubkraft bekommen würde. Geschichten waren so. Man steckte fest, jammerte und klagte, war drauf und dran, alles Geschriebene in den Müll zu werfen, aber dann löste sich der Knoten wie von Zauberhand, und die beteiligten Buchweltfiguren begannen zu handeln.
»Guten Tag«, sagte die Frau, die dem Wagen entstieg und durch den Morast zu mir herüberstakte. Sie mochte um die 70 sein und trug das graue, exakt gescheitelte Haar kinnlang. Dass sie nervös war, verriet nur die Ängstlichkeit, mit der sie ihre Handtasche unter den Arm klemmte. Als müsse sie ihre Sachen in einem römischen Linienbus gegen Taschendiebe verteidigen. »Frau Laverde?«
Ich stand auf und wischte mir die schmutzigen Hände an den Jeans ab. Die Wirkung der Schmerztabletten ließ allmählich nach. Mein Bein zog böse.
»Mein Name ist Simona Mannheim. Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir miteinander sprechen. Ich bin Katjas Mutter.«
44
»Sie werfen Reinhard Finkenstedt vor, den Tod Ihrer Tochter verschuldet zu haben?«, fragte ich eine Stunde später. Wir saßen auf dem Sofa in meiner Küche. Kaum hatte Simona zu erzählen begonnen, war ich ins Arbeitszimmer gestürzt, um mein Werkzeug zu holen. Simona zögerte kurz, als sie das Aufnahmegerät sah, sprach dann aber konzentriert weiter.
»Mein Mann und ich waren katholisch. Wir lebten in der Überzeugung, dass es noch eine andere, mächtigere Instanz gibt als diesen Staat, der uns all unsere Handlungen vorschrieb.«
»Dennoch schickten Sie Katja zu den Jungen Pionieren.«
»Damals wäre es sehr, sehr schwierig gewesen, ein Kind von der Jugendorganisation fernzuhalten. Heute noch bin ich der Meinung, dass es zwei Arten des Mitmachens gibt: das Mitmarschieren aus Überzeugung und das Mitmachen, um Konfrontationen zu vermeiden, die man ohnehin nicht gewinnen kann. Ich hatte nie das Zeug zur Heldin.«
Schweigen.
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