Fliehganzleis
heranzukommen?«
»Finkenstedt war eine Nummer zu groß für uns, die Katholiken, die nicht in der Partei waren.«
»Aber wie ging es dann weiter?«, fragte ich.
»Die Uhren sprangen irgendwann wieder an. Wir kehrten an unsere Arbeitsplätze zurück und funktionierten. Wir erhielten eine offizielle Beileidskarte. Ich habe sie nicht einmal gelesen.«
»Haben Sie Alex’ Weg weiterverfolgt? Was hat er getan, nachdem er bei Ihnen war?«
»Zunächst verloren wir ihn aus den Augen. Wir hatten mit unserer Trauer zu kämpfen, dann rutschte mein Mann in die Depression. Er bekam Stimmungsaufheller. Sie halfen nicht. Jemand besorgte Medikamente aus der Bundesrepublik, aber nichts konnte ihn aus dem Loch herausholen. Er sank so tief, dass er nur noch im Bett lag und an die Decke starrte. Ich verließ morgens das Haus, dankbar, dass ich zur Schule konnte. Über die Jahre habe ich alles getan, um ihm zu helfen. Stundenlang saß ich neben ihm und hielt seine Hand, sprach mit ihm, regte ihn an, sich auszusprechen. Es fruchtete nichts.«
Ich wurde rot und hoffte, dass Simona es nicht sah. Verglichen mit dem Entsetzen der Mannheims war ich ein kleiner Wurm auf dem weiten Gottesacker, der vor wenigen Stunden noch sein eigenes Unglück für besonders herausragend gehalten hatte.
»Im Juli kam ich von der Schule heim und fand ihn tot in der Garage. Er baumelte an der Decke. Wie eine … eine alte, hässliche Lampe.« Simona suchte wieder nach ihrem Kamm und fuhr hektisch durch ihr glattes Haar.
»Das war 1978?«
»Ja.«
Ich ließ ihr Zeit, sich zu sammeln, bevor ich fragte: »Alex Finkenstedt kam 1973 ins Zuchthaus. Er hatte sich einer Fluchthelferorganisation angeschlossen. Wussten Sie das?«
»Der Prozess gegen Alex blieb keinem Leipziger unbekannt. Man hat das groß ausgeschlachtet.« Simona verstaute ihren Kamm und räusperte sich. Diese Frau lebte von ihrer Selbstdisziplin. Erst jetzt fiel mir ihre fahle Gesichtsfarbe auf. »Entweder wurden die Leute, die anderen zur Republikflucht verhalfen oder selber abhauen wollten, in Schauprozessen vorgeführt wie Alex oder in Geheimprozessen abgeurteilt. Wer damals aus der DDR zu fliehen versuchte und aufgegriffen wurde, den erwarteten ungefähr drei Jahre Haft. Wer dagegen anderen half, der kriegte 15 Jahre aufgebrummt. Alex’ Straftatsbestand nannte sich ›Verleiten zum Verlassen der DDR ‹.«
Wieder schien sie den Faden verloren zu haben. Müde nickte sie im Takt der Musik. »Die Schauprozesse sollten abschrecken. Die geheimen Verhandlungen dagegen waren angesagt, wenn der DDR -Führung gerade nichts daran lag, dem Volk zu signalisieren, dass es noch Menschen gab, die nicht im Arbeiter- und Bauern-Paradies leben wollten.«
»Verstehe.«
»Wirklich?«
»Soweit es mir möglich ist, ja«, versicherte ich. »Alex wurde also in einem Schauprozess verurteilt?«
»Reinhard Finkenstedt bekam großen Bahnhof. Der tapfere Sozialist, der sogar seinen eigenen Sohn der Sache opfert, fühlte sich auf der Bühne sichtlich wohl. Doch wir normalen Leute fanden sein Handeln infam. Er hat sein eigenes Kind ins Zuchthaus getrieben.«
»Wurde Alex denunziert?«
Simona nickte. »Muss so gewesen sein.«
Der Regen klatschte gegen das Fenster.
»Von wem?«
Schulterzucken.
»Was war Alex’ Mutter für eine Frau?«
»Rosa Finkenstedt!« Simona Mannheim räusperte sich. »Sie war damals auch im Ferienlager dabei, hat, wenn ich Alex glauben kann, Katjas Leiche gefunden. Jahre später, 1980, eröffnete sie eine kleine Kunstausstellung, parallel zur Leipziger Messe. Die Messe war immer ein großes Thema. Die DDR musste ja etwas vorweisen, den Leuten einreden, wir wären unter den zehn stärksten Wirtschaftsnationen der Welt! Die Vernissage fand im Foyer eines Hotels statt. Alles wirkte sehr zweitklassig.« Sie tupfte sich mit einem bestickten Taschentuch den feinen Schweißfilm von der Stirn. »Das Thema lautete ›Künstlerisches zur Messe‹ – oder so ähnlich. Damals war ja alles kleinkariert. Rosa stellte Leipziger Ansichten aus. Gefällige Bilder. Brave, solide Arbeiten. In meinen Augen nicht unbedingt Kunst. Eben gefällig. Zu dem Zeitpunkt hatte ich gerade mein Leben wieder zu genießen gelernt. Ich hatte Freunde, eine Pfarrgemeinde im Rücken, ich mochte meinen Beruf. Eigentlich kein ganz schlechtes Leben. Auch mit dem Alleinsein kam ich besser zurecht. Verzeihung, hätten Sie ein Glas Wasser?«
Ich holte ein Glas aus dem Schrank, füllte es mit Leitungswasser und stellte es Simona
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