Fliehganzleis
hätte mich selbst vernichtet. Hätte ich nur ein einziges Mal aufgemuckt, man hätte mich nicht mehr als Lehrerin arbeiten lassen. Dann verlor sich der Wunsch nach Vergeltung. Mein Leben kam wieder in Ordnung. So seltsam es klingt, aber ich habe Katjas Tod verarbeitet. Es blieb eine Narbe, und die schmerzt nach wie vor, aber es ist keine vernichtende Qual mehr.«
Die Musik war längst verklungen. Ich wartete. Nun nahte der Teil des Gespräches, der Simona Mannheim am schwersten fiel. Die meisten Menschen schoben das Grausame, Mühevolle vor sich her. Sie gaukelten sich vor, wenn sie nur lange genug über anderes redeten, würden sie schon Mut fassen, auch den Abgrund in Worte zu kleiden. Bei manchen traf das zu. Aber lange nicht bei allen.
»Irgendwann tauchte dann Alex aus der Versenkung auf. Ohne Umschweife erklärte er mir, er würde seinen Vater zur Verantwortung ziehen. Er, Alex, habe sich endlich dazu durchgerungen, und er habe auch Beweise, dass Katjas Tod fahrlässige Tötung durch Unterlassen gewesen wäre. Auch nach DDR -Recht. Da wurde ich hellhörig.« Simona glättete ihr Haar mit den Händen. »Zuerst wimmelte ich Alex ab, doch er ließ nicht locker. Der Hass auf seinen Vater sitzt unglaublich tief.«
»Die Aussicht, Reinhard Finkenstedt nach so vielen Jahren noch dranzukriegen, hat Sie nicht losgelassen?«
»Juristisch ist da nichts zu machen, die Sache ist verjährt! Nein, es ging um etwas ganz anderes. Alex plante, mit der Geschichte von Katjas Tod und Finkenstedts Beteiligung an die Öffentlichkeit zu gehen.« Gierig trank Simona ihr Wasser. Sie verbarg ihre Erregung gekonnt, doch der Tic mit ihrer Frisur und ihr unstillbarer Durst verrieten das Feuer, das in ihrem Innern loderte. »Mein mühsam eroberter Seelenfrieden war dahin! Alex hatte in diesem Jahr öfter als sonst mit Larissa telefoniert und meldete sich vor wenigen Wochen, das muss Anfang August gewesen sein, ganz aufgeregt bei mir. Er wüsste von Larissa, dass Rosa ihr vor Jahren ihre alten Skizzen- und Tagebücher überlassen hatte. Rosa wusste, dass sie krank war und bald sterben würde. Als Künstlerin hatte sie versucht, das Erlebnis auf Usedom schreibend und zeichnend zu sublimieren.«
Ich schluckte. Unter Milenas wachsamem Blick hatte ich durch die besagten Kladden geblättert. Unaufmerksam, abgelenkt, zerstreut.
Fragen fluteten meinen Kopf: War Milena noch auf dem Schloss? Hatte sie sich Rosas Sachen näher angesehen? Wusste sie doch um die damaligen Ereignisse, obwohl sie mir gegenüber behauptet hatte, keine Ahnung zu haben, wer Katja war?
»Alex hoffte, dass seine Mutter in ihren Tagebüchern Namen genannt hätte, die uns bis dahin unbekannt waren«, fuhr Simona fort. »Er beabsichtigte, diese Leute aufzusuchen und zu befragen oder Larissa dazu zu animieren.«
Simona sank in die Sofapolster zurück und atmete tief durch. Ich ging zu ihr hinüber, griff nach meinem Block.
»Der abendliche Besuch auf dem Schloss war Alex?«, fragte ich. »Am 27. August? Heute vor einer Woche? War er der Letzte, der Larissa sah, bevor sie niedergeschlagen wurde?«
»Ich nehme es an.«
Wir blickten uns in die Augen. Gegen ihre Erschöpfung ankämpfend, sagte Simona: »Aber er hat sie nicht umgebracht.«
»Noch lebt sie ja«, warf ich ein und sah auf die Uhr. Schon nach acht.
»Ich meine, er hat sie nicht niedergeschlagen. Er ist ein sanfter Mensch. Vergessen Sie nicht: Alex hat Larissa geliebt.«
Von der Liebe hielt ich in solchen Fällen nicht viel.
»Wo lebt Alex?«, fragte ich.
Simona zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht.«
»Sie müssen doch eine Telefonnummer, wenigstens eine Handynummer haben!«
Sie schüttelte nur stumm den Kopf.
»Wissen andere davon, dass Alex zu Larissa wollte?«
»Nein. Schreiben Sie für mich?«
Ich verstand. All die Jahre seit dem Tod ihrer Tochter war sie zurechtgekommen. Hatte sich immer wieder aufgerichtet. Den Selbstmord des Mannes verwunden. Einen Neunanfang gewagt und sich ein bescheidenes Glück erkämpft. Doch nun, da die Revanche so nahe gewesen war, nur um ihr erneut zu entgleiten, stand Simona Mannheim am Rande des Zusammenbruchs. Die Geschichte endlich loszuwerden, auszuspucken wie eine verschluckte Gräte, kam ihr wie die einzige Rettung vor.
Sie erwartete von mir eine Therapie. Deshalb war sie hier. Die konnte ich ihr nicht geben. Das erklärte ich ihr, suchte ihr die Visitenkarte einer Therapeutin heraus, die ich in solchen Fällen weiterempfahl, und drückte sie ihr in die
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