Fliehganzleis
die ersten gesamtdeutschen Wahlen. Alles erschien wie ein Traum. Aber wir fühlten auch eine extreme Verunsicherung. Vor der Währungsunion lag ich nächtelang wach und rechnete nach, wie ich mit meinem Geld auskommen würde. Ich sah mich in der Gosse. Heute kann ich darüber lachen, aber damals schien die Erde unter unseren Sohlen zu wanken. Nichts war mehr sicher. In der Pfarrei fiel die Gemeinschaft auseinander. Nach dem Sonntagsgottesdienst zerstreuten sich alle. Jeder war mit sich selbst beschäftigt. Ich begann zu begreifen, was ›freier Markt‹ bedeutete. Jeder hatte für sein eigenes Wohl zu sorgen. Im Zweifelsfall auch zu kämpfen. Das kannten wir so nicht, denn der Staat hatte uns immer an die Hand genommen.« Sie musterte den Rekorder auf dem Tisch. »Stört die Musik die Aufnahme nicht?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Na gut«, nahm Simona den Faden wieder auf. »Ich zog also in den Westen, nach Köln, und eines Tages erhielt ich einen Anruf von Alex. Er hätte meine Adresse herausgefunden, er plante, ein Buch über seine Haftzeit zu schreiben, und fragte, ob ich etwas für ihn tun könnte. Schließlich war ich Agentin.«
Mein Bein schmerzte. Ich stand auf und drückte mir zwei Tabletten aus dem Blisterstreifen.
»Wir trafen uns«, fuhr Simona fort. »Mir wurde schnell klar, dass Alex ein gebrochener Mann und psychisch krank war. Er stand unter dem Einfluss starker Medikamente. Hatte sich gleich nach dem Freikauf durch die Regierung der Bundesrepublik in einer Klinik behandeln lassen. Er litt an Wahnvorstellungen und Verfolgungsängsten. Was bei dem, was er durchgemacht hat, kein Wunder ist.« Simona Mannheim bat um mehr Wasser. Während ich zur Spüle ging, sprach sie weiter. »Also wurde nichts aus dem Buch, aber wir blieben in Kontakt. Wenigstens einmal im Jahr telefonierten wir. Oft auch mehrmals. Sogar Rosa meldete sich bei mir. Sie hatte sich von ihrem Mann getrennt.«
»Wow!«, sagte ich.
»Eine große Leistung für jemanden wie Rosa. Sie hatte immer in Reinhards Schatten gestanden.«
»Sicher war ihr Mann nicht glücklich darüber.«
»Der hatte ganz andere Sorgen. Er war ja Jurist gewesen und hatte als Anwalt gearbeitet, auch noch während seiner Professorentätigkeit. Nun kamen Leute an die Oberfläche, die sich von ihm ausspioniert fühlten. Sie erstatteten reihenweise Anzeige, und nicht aus allen Vorwürfen kam Reinhard heraus. Er stellte sich öffentlich hin und bescheinigte den Gerichten Siegerjustiz. Sehr viele SED -Opfer jedoch sahen im Laufe der Zeit ihre Stasiakten ein. Deshalb meldeten sich auch immer mehr zu Wort, denen Reinhard Finkenstedt das Leben sauer gemacht hatte. Er verlebte keine leichten Jahre.«
»Haben Alex und seine Mutter wieder einen Draht zueinander gefunden?«
»Soweit ich weiß, nicht. Er nahm es ihr übel, all die Jahre stillgehalten zu haben. Sie starb vor 13 Jahren an Krebs.«
»Haben Sie wegen Reinhard Finkenstedts Verhalten im Zusammenhang mit Katjas Tod irgendetwas unternommen?«, fragte ich.
»Nun kommen wir zum Kern.« Zum ersten Mal seit Beginn unseres Gesprächs sah Simona Mannheim mir in die Augen. »Darf ich Ihre Toilette benutzen?«
Ich führte sie durch mein Schlafzimmer ins Bad. Was Besucher anbelangte, war mein Haus ziemlich unpraktisch konstruiert. Ich musste über ein extra Gästeklo nachdenken.
Simona blieb eine ganze Weile weg. Ich saß auf einem meiner Barhocker an meiner improvisierten Theke am Küchenfenster und sah hinaus. Herbst. Düsternis. Frühe Dunkelheit, die ruckartig einsetzte und den Regen unsichtbar machte. Nur sein unbeirrtes Trommeln gegen die Fensterscheibe war zu hören. Ich sah die Pferdekoppeln nicht mehr, über die ich sonst einen weiten Blick genoss. Selbst mein Garten und die Straße lagen im Finstern. Ich zog das Rollo herunter.
Simona kam zurück, das Gesicht rosiger als vorher. Sie setzte sich, nahm ihre Handtasche auf den Schoß und redete weiter, als habe es keine Unterbrechung gegeben.
»Wenn man Dinge erlebt, wie ich sie erlebt habe, wenn die eigene Tochter stirbt, unter ungeklärten Umständen, wenn über allem ein Verdacht liegt, der in einem gärt …, dann gibt es eine Phase, in der man nach Rache trachtet. Aber diese Phase geht zu Ende. Man spürt, dass Rache nicht das Maß aller Dinge ist.« Sie schüttelte den Kopf, sodass ihr streng gekämmtes Haar in Bewegung geriet. »Eine Weile malte ich mir aus, Reinhard Finkenstedt zur Verantwortung zu ziehen. Aber in der DDR gab es keine Möglichkeit. Ich
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