Fliehganzleis
kauft er die Vorräte? Er fällt doch auf! Ein Ausländer, der die Sprache nicht kann.«
»Ich mache das nicht«, betonte Freiflug, »aber oben in Meck-Pomm muss es einen Kollegen geben, der den Fall ›Katja‹ damals bearbeitet hat.«
»Ich habe auch schon dran gedacht. Wenn der Mann noch lebt.«
»Ein Versuch lohnt sich.«
Nero räumte seine Papiere auf. Martha Gelbach war sicher auf dieselbe Idee gekommen. Und dennoch …
Eine halbe Stunde später stand er von seinem Stuhl auf.
»Ich melde mich bei Woncka«, sagte er.
Freiflug wandte den Blick nicht vom Bildschirm, als er zum Gruß die Faust hob. »Freundschaft!«
»Du bist ein Spinner, Markus!«
Grinsend verließ Nero das Büro.
49
Es nieselte, als Nero aus dem LKA -Gebäude trat und sich zu seiner Wohnung aufmachte. Er brauchte ein paar frische Sachen für das Wochenende.
Woncka war einverstanden, dass Nero Urlaub eintrug. Er hatte sich nicht einmal lange bitten lassen. Die einzige Bedingung des Polizeioberrates war gewesen, dass Nero erreichbar sein sollte. So ein Unfug, dachte Nero, während er zu Fuß durch den Nieselregen nach Schwabing ging, jeder ist sowieso 24 Stunden am Tag erreichbar. Polizisten zumal.
Er genoss es, die Stadt zu erkunden, ohne Auto oder S-Bahn. Er war gerne zu Fuß unterwegs, auch bei schlechtem Wetter. Gerade dann. München zeigte so viele Gesichter, die er noch nicht kannte. Seit seiner Kindheit hatte die Stadt ihn angezogen. Jahrelang hatte er sich gewünscht, hier zu leben. Doch kaum hatte er seinen Traum endlich in die Wirklichkeit getragen, kam ihm die Liebe dazwischen.
Im Ernstfall, das hieß, wenn Kea einverstanden wäre, würde er München aufgeben und zu ihr ziehen.
Eine Fernbeziehung kam für ihn nicht infrage. Nero brauchte Routine. Wenn er mit einer Frau zusammenlebte, dann wollte er sie jeden Tag sehen, nicht nur am Wochenende. Er wollte der Telekom nicht Geld in den Rachen werfen für verwirrte Telefongespräche, die das tägliche Zusammensein nicht ersetzen konnten. Er sah einigen seiner Kollegen an, wie sie zersetzt wurden vom Hin und Her ihrer Wochenendbeziehungen, geschlaucht von langen Fahrten in überfüllten ICE s, vom Rumhängen an zugigen Bahnhöfen oder leeren Stunden in den Staus auf den Autobahnen.
In seiner Ehe mit Leonor hatte es ein halbes Jahr gegeben, in dem Leonor pendeln musste. Sie schloss ihr Studium in Frankfurt ab. Er brachte sie jeden Montagmorgen noch vor fünf Uhr nach München, wo sie am Hauptbahnhof in den ICE stieg. Nero hatte die Abschiede gehasst, die Abhängigkeit vom Fahrplan, der jede Minute maß, die er mit seiner Frau am Bahnsteig stehen durfte. Umgeben von anderen Paaren, die ebenso wie er und Leonor die Trennung hinauszögern wollten. Auseinandergerissen. Damals am Bahnhof, und dann, später, in diesem vermaledeiten, dreimal verfluchten Supermarkt.
Ein Überfall. Drei Typen, die an die Bareinnahmen wollten. Eine ungewollte, ungeplante Bewegung. Schüsse. Leonor, die plötzlich zu Boden sank.
Nero hatte nicht schnell genug begriffen.
Er rieb seine Schläfen.
Sieh nach vorn, befahl er sich. Du hast nichts für sie tun können. Der Räuber hat sie erschossen, du konntest nichts tun, alles geschah in Sekunden.
Sieh nach vorn sieh nach vorn sieh nach vorn.
Nero ging seine Lieblingsroute. Über den Königsplatz, an den Pinakotheken vorbei, machte einen Umweg über die kleinen Schwabinger Sträßchen.
Denk an Kea.
Er war sich sicher, dass Kea seine Gefühle erwiderte. War sich nicht sicher. War sich sicher. Okay, sie schliefen miteinander, aber was bedeutete das schon. Kea hatte mit anderen Männern geschlafen. Nero war sich unsicher, ob sie das immer noch tat. Ob sie noch Eisen im Feuer hatte. Vor Kurzem hatte ihm Juliane am Telefon klargelegt, dass er der einzige Mann sei, dem Kea ihre schwache Seite zeige. Wenn das ein gutes Zeichen war … Im Augenblick musste er einfach Julianes Weisheit vertrauen.
Nero bog in die Nordendstraße ein. Er schlüpfte am Eingang zur italienischen Buchhandlung vorbei, ging hinauf in seine Wohnung, packte frische Wäsche ein, Jeans, warme Schuhe. Sah durch die großen Fenster hinunter auf die laute, chaotische Straße. Gegenüber bei Karo saßen die Leute gemütlich vor einem Latte Macchiato oder einem Weißbier.
Kea würde nicht in dieser Wohnung leben wollen. Nicht in dieser Straße. Nicht in dieser Stadt. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit betonte sie, wie sehr sie das Landleben genoss und die Einsamkeit in ihrem Haus am toten
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