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Fliehganzleis

Fliehganzleis

Titel: Fliehganzleis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederike Schmöe
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fegte der Wind und brachte den feuchten Geruch des Meeres. Die Seeluft und die Erschöpfung nach der langen Fahrt machten meine Schritte schwer. Als hätte ich getrunken.
    »Nur gut, dass ich heute morgen rechtzeitig aufgestanden bin«, gähnte ich, nachdem Nero den Schlüssel für unser Apartment vom Vermieter entgegengenommen hatte, einem hageren, älteren Herrn mit krummer Nase, der sich für seine Gäste nicht besonders zu interessieren schien, sofern diese sich mit Vorauskasse einverstanden erklärten.
    Nero warf mir einen belustigten Blick zu. Die lange Fahrt hatte uns zusammengeschweißt. Abwechselnd hatten wir am Steuer gesessen. Den grauen Asphalt vor Augen, waren wir Kilometer um Kilometer auf unser Ziel zugerauscht. Während die Landschaft sich veränderte, Mittelgebirge und flache Ebenen einander ablösten, blieb das Band der Autobahn gleich und eintönig.
    Nero hatte zeitweilig ganz entspannt auf dem Beifahrersitz geschlafen. Zwischendurch hatten wir geredet. Unsere Sicht der Dinge ausgetauscht. Nero glaubte, am Ort des Geschehens, dort, wo Katja Mannheim gestorben war, eine Antwort zu finden. Er hatte den Ermittler aufgetrieben, der Katjas Tod untersucht hatte. Ich wusste nicht, was mich erwartete, und genau das war die richtige Nahrung für meine Neugier auf Menschen.
    Wir stiegen über knarrende Holzstufen in den ersten Stock.
    »Juliane kommt morgen nach«, sagte ich überflüssigerweise. »Mit Dolly.«
    »An Juliane kommt man nicht vorbei, was?«, fragte Nero belustigt.
    »Sie hat was gut bei dir«, erinnerte ich ihn. Dass wir beide ohne viel Federlesens zueinandergefunden hatten, ging auf Julianes Konto.
    »Sie ist jedenfalls kein Mensch, der sich nicht einmischt.« Nero hielt mir die Tür auf.
    »Sie meint, ihrer Schwester würden ein paar Tage an der See guttun.«
    »Das ist bestimmt so.«
    Wir traten in das Apartment, das für die nächsten Tage unser gemeinsames Zuhause sein würde. Ein junges, hoffnungsfrohes Paar auf Urlaub. Na ja, ›jung‹ traf es wohl nicht mehr ganz. Aber hoffnungsfroh ganz sicher. Ich trat ans Fenster. Die Villa lag direkt am Rand eines Kiefernwaldes. Das Wohn- und Schlafzimmer bot einen großzügigen Blick hinaus ins Grüne, nur die Küche wies zur Straße.
    »Wir werden es ruhig haben«, sagte Nero. »Aber Ausspannen ist nicht. Dönges wartet an der Seebrücke auf uns.«
    Ich sank auf das Bett und streckte die Beine aus.
    »Schon gut. Gib mir 20 Sekunden.«
    Nero grinste und verschwand im Bad.
    Ich schloss die Augen, wusste nicht recht, wo ich war. Mein Kopf erzeugte die Illusion, mich noch immer in einem Auto bei Tempo 130 fortzubewegen. Ich richtete mich auf und begutachtete meinen mittlerweile dunkelgrünen Bluterguss. Das Bein schmerzte vom langen Sitzen. Ich kramte ein frisches T-Shirt aus meiner Reisetasche, die ich heute Morgen in aller Eile gepackt hatte. Sogar an Essensvorräte hatte ich gedacht. Hungrig riss ich eine Packung Butterkekse auf. Mein Appetit hatte mich wieder.

52
    Kurz darauf spazierten Nero und ich die Seestraße hinunter, untergehakt wie ein altes Ehepaar. Ich war dankbar um meine Regenjacke und das warme Halstuch. Es nieselte leicht, und je näher wir dem Strand kamen, desto heftiger blies der Wind. Wenige Feriengäste waren unterwegs, die meisten saßen in den Restaurants und betrachteten das Leben von dort drinnen. Einige der Villen, an denen wir vorbeikamen, stellten den Prototyp der Bäderarchitektur dar, wofür der südöstliche Abschnitt Usedoms so bekannt war: hell gestrichene Häuser mit üppig verzierten Holzveranden, großen Rundbögen, Giebelreliefs und gepflegten Vorgärten.
    Das Rauschen des Meeres wurde lauter und lauter, als die Straße kurz vor der Promenade wieder anstieg. Wir gingen zwischen windschiefen Kneipen und einem verwaisten Parkplatz hindurch auf die Strandpromenade hinauf.
    »Puh!«, schrie ich, aber der Wind trieb alle Töne davon.
    Ich sah auf das Meer. Vergaß mich, Nero, den Fall, Larissa und Simona Mannheim.
    Das Meer war ewig. Beinahe. Es war größer als alles, was dieses Leben sonst bot. Es brüllte, schäumte und tobte. Konnte sich alles nehmen, ohne je zu geben. Einem Menschen würde man das übel ankreiden. Die Wellen krachten auf den Strand, wirbelten Sand auf, rissen ihn mit sich und schlugen erneut zu. Im hereinbrechenden Dunkel schwebte Ehrfurcht über dem Wasser. Ich sah einzelne Schiffsleuchten in der Ferne aufflackern. Weit rechts erkannte man im Dunst die Lichter an der polnischen Küste. Die

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