Fliehganzleis
Pommersche Bucht machte einen weiten Bogen, lag da wie ein Hufeisen.
Nero drückte kurz meine Schulter. »Wach auf, Kea! Dort wartet unser Informant.«
Der kleine, vierschrötige Mann stand auf der Seebrücke. Seine Windjacke plusterte sich im Sturm auf wie ein Wetterballon.
»Nero Keller«, stellte Nero sich vor.
»Ich bin Kea Laverde, guten Abend.«
»Ralph Dönges. Ich hoffe, Sie haben Verständnis, dass ich Sie nicht zu Hause empfange.«
Wir nickten einander zu. Ein paar Arbeiter waren dabei, die Sitzbänke von der Seebrücke auf einen Laster zu verladen. Neben der Konzertmuschel direkt am Strand knatterten Flaggen im Wind.
»Gehen wir ein Stück«, schlug Dönges vor. »Weiter die Promenade hinunter hat eine Pizzeria eröffnet, wo wir auch um diese Zeit noch etwas zu essen kriegen. Es ist sogar besser, etwas später zu kommen. Die Touristen auf Usedom sind immer früh dran. Hatten Sie eine gute Fahrt?«
»Ja«, antwortete Nero knapp.
»Dann gehen wir.«
Wir setzten uns in Bewegung. Belauschen würde uns hier niemand. Dazu brüllte der Wind zu laut. Wir konnten uns kaum gegenseitig hören.
»Ich habe die Akten eingesehen, um die Sie mich gebeten hatten«, sagte Hauptkommissar Dönges. »Ich habe alles bei mir. Katja Mannheim ist im Sommer 1968 gestorben. Das ist 40 Jahre her. Man kann es kaum glauben.«
Ich war dem Meer dankbar, dass es so viel Lärm machte. So konnten weder Nero noch Ralph Dönges mein leises ›Uff‹ hören. Ich war 1968 geboren. Hatte bald Geburtstag. Dasselbe Jahr. Für die eine der Tod, für die andere das Leben.
»Ich habe Sie überprüft«, fuhr Dönges an Nero gewandt fort. »Ich nehme an, das haben Sie mit mir auch getan?«
»Genau.«
»Es wäre mir recht, wenn Sie auf Usedom nicht allzu viele Spuren hinterließen. In bar zahlen, wenn möglich. Nicht mit dem Handy telefonieren. Und so weiter.«
»Das ist ganz in unserem Sinn«, bestätigte Nero. »Danke, dass Sie sich Zeit nehmen heute Abend, wo doch Ihre Frau morgen Geburtstag hat.«
»Sie wird 60. Ein großer Tag«, lächelte Dönges. »Meine Töchter wirbeln inmitten ihrer Kinderschar durch das ganze Haus, um letzte Vorbereitungen zu treffen. Da störe ich nur.«
Ich sah, dass Dönges’ Hinweis auf seine Familie Nero einen Stich versetzte. Über diesen Mann musste ich noch manches lernen.
»Außerdem kommt man tagsüber auf der Insel kaum voran, außer in den frühen Morgen- und späten Abendstunden. Der Verkehr in der Saison nähert sich dem GAU . Das ist eine der Schattenseiten, die wir Einheimischen bei aller Freude über die Feriengäste auszuhalten haben.«
Dönges überlegte, als habe er kurzfristig vergessen, was wir von ihm wollten.
»Katja Mannheims Tod ging damals als Unfall zu den Akten«, begann er. »Seit ich denken kann, ertrinkt jeden Sommer mindestens ein Feriengast auf Usedom. Wir hatten erst diesen Sommer hier in Bansin einen Fall. Ein Junge, sieben Jahre alt. Viele unterschätzen Wetter und Meer. Von Kindern kann man nicht verlangen, dass sie vorsichtig sind. Sie sind eben begeistert vom Wasser. Damals, 1968, hatten wir gutes Wetter. Es war über Wochen sehr warm und sonnig. Aber an jenem Abend kamen am Balmer See Wind und Regen auf. Das Wetter kippte, die Folgetage waren sehr kühl.«
»Wo liegt dieser See?«, unterbrach ich.
»Im Rücken der Küste. Er ist ein Teil des sogenannten Achterwassers«, erklärte Dönges. »Der Peenestrom formt dort allerhand Buchten. Die Ecke ist ruhiger als die Seeseite, viele Gäste, die mit dem Boot kommen, suchen sich dort einen Liegeplatz. Das offene Meer ist für kleinere Boote ohnehin zu rau. Die Jungen Pioniere hatten damals am Balmer See einen Lagerplatz. Ferien an der See waren begehrt. Nicht jeder durfte mit.« Dönges schwieg. Wir gingen die Strandpromenade entlang. Zwischen uns und dem Meer lagen Dünen, dicht mit Kiefern und Birken bewachsen. Auf der anderen Seite Villen, die meisten dienten als Hotels, Pensionen, Ferienwohnungen und Kneipen.
»Lassen Sie uns zum Strand hinuntergehen«, bat Dönges und wies auf einen mit Holzbohlen befestigten Durchgang, der über die Düne führte.
Waren wir auf der Promenade noch einigermaßen vom Wind geschützt gewesen, boten wir am Strand den Böen nun volle Angriffsfläche. Ich lehnte mich gegen den Sturm. Winzige Sandkörner schlugen in mein Gesicht. Ich kniff die Augen zusammen.
Wind, Lebensatem.
Frei. Ich war frei.
Ich musste nur die Arme ausbreiten, wie ein Vogel seine Flügel, und abheben.
»Das
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