Fliehganzleis
Frisur habe ich gar nicht gesehen.« Sie klopfte mit dem Zeigefinger auf Finkenstedts dichtes Haar.
57
Damit ich zu dem Treffen gehen konnte, ohne dass mein hauseigener Polizist argwöhnisch wurde, hatte Juliane zu einer List gegriffen und Nero gebeten, Dolly von der Ostseetherme abzuholen. Angeblich wäre ihr Wagen nicht in Ordnung. Damit Nero auch ja keinen Verdacht schöpfte, hatte sie sogar ihr Auto zur Werkstatt an der Bundesstraße gefahren.
Nero hatte mich argwöhnisch angesehen, als wir uns verabschiedeten. Mir war mulmig zumute. Die Sache konnte schiefgehen. Doch wenn ich schon scheiterte, dann war es mein eigenes Scheitern. Fremde Niederlagen würde ich nicht akzeptieren.
Der Wind dröhnte, toste, raste, riss die Blätter von den Bäumen an der Strandpromenade. Birken und Buchen. Solide, nordische Stämme. Die Gischt befeuchtete mir Haar und Gesicht.
Ich hockte mich an eine vernagelte Bude, wo zur Hochsaison Strandkörbe und Liegen vermietet wurden. Gelbes Holz, Fetzen einer Markise. Dahinter die stumme Reihe der Hotels. Ich stemmte meine Füße in den Sand, zog meine Jacke eng um mich. Wenn es innerlich brodelte, war das Meer genau die richtige Umgebung. Eine Umarmung, die nicht abwiegelte, nicht beruhigte, nicht säuselte, sondern die vor Kraft und Widerstand strotzte. Die Urkräfte freiließ, die einfach da waren, wie mein Zorn. Wie alles, was mich am Leben hielt.
Ewigkeit.
Larissa würde sterben.
Ich lehnte meinen Kopf an die Bretterwand. Wer auch immer sich nun zu erkennen gab – die Dinge würden sich klären. Ich konnte Larissas Geschichte zu Ende schreiben und zu meinem eigenen Leben zurückkehren.
Ein Mann kam um die Bude herum. Er ging lautlos durch den Sand.
»Alex Finkenstedt«, sagte ich und stand auf.
»Und Sie sind Kea Laverde. Guten Tag.«
Er reichte mir eine schmale Hand. Der Händedruck war nur kurz, ein Impuls, um unser Gespräch zu beginnen.
»Gehen wir ein Stück?« Alex war Mitte 50, ein schöner Mann. Einer mit Ausstrahlung. Das Mädchenhafte seiner Züge mochte mit den Jahren zurückgewichen sein. Sein Gesicht vereinte männliche und weibliche Vorzüge. Er hielt sich sehr gerade und wirkte mit Flanelljacke und Halstuch wie ein englischer Gentleman.
»Wie haben Sie mich gefunden? Und warum haben Sie meine Freundin angesprochen?«
»Antwort Nummer eins: Sie treten ziemlich laut auf. Da habe ich einen Standortvorteil. Ich weiß, wie man sich unsichtbar macht. Bin ein Mann im Schatten. Antwort Nummer zwei: Das ergab sich. Zufrieden?«
Ich war keineswegs zufrieden. Bevor ich widersprechen konnte, fuhr er fort: »Ich habe Larissa zum ersten Mal vor 35 Jahren gesehen. An einem warmen Tag im Mai. Die Maidemonstrationen waren vorbei. Ich hatte mich gedrückt, aber Larissa ging immer hin. Sie wollte keinen Anstoß geben, beobachtet oder drangsaliert zu werden.«
Schweigen. Nur das Tosen der Brandung umgab uns. Wir liefen nach Nordwesten. Über der Steilküste ging die Sonne unter. Hoch oben sah ich, wie sich die Bäume im Wind wiegten.
»Ich bin ihr sofort verfallen. Damals – und heute auch noch – fühlte ich mich von Frauen angezogen, die älter waren als ich. 14 Jahre sind nicht die Welt. Heutzutage nimmt die Gesellschaft das hin. Dennoch war ich überzeugt, dass ich sie nicht wiedersehen würde. Ich durfte nicht. Ich hatte ihre Adresse gar nicht, kannte nur ihren Vornamen. Tja. Schön, das Meer, nicht wahr?«
»Ja.«
»Damals übernahm ich für die Fluchthelfer um Gerrit Binder ab und zu einen Dienst. Forschte etwas aus, gab eine Information weiter. Ich sollte Larissa treffen und ein Codewort übergeben. Wir sahen uns und ich verliebte mich unsterblich in sie. Später gestand sie, dass sie auch starke Gefühle für mich empfand. Aber in dieser einen Begegnung lag der Zauber der ersten Stunde.«
Ich wusste, wovon er sprach. Der erste Anflug von Liebe, sehr zart, sehr zerbrechlich. Unvergesslich.
»Dann war diese Hochzeit, und der Zufall wollte, dass wir uns wiedertrafen. Nur der große Verfasser menschlicher Schicksale konnte das wollen. Gott oder wer auch immer hatte seinen Spaß an unseren verblüfften Gesichtern. Obwohl wir unbeteiligt taten. Ich kann gut schauspielern. Damals musste ich das können. Ich durfte nie auch nur eine Regung zeigen. Keine Angst, keine Nervosität. Niemals habe ich meine Emotionen rausgelassen. Kein zuckender Mundwinkel, kein zitternder Nasenflügel sollte verraten, was in mir wirklich los war.« Alex Finkenstedt rückte an
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