Fliehganzleis
seinem Halstuch. »Und später, 15 Jahre lang, im Knast, waren alle Gefühlsregungen, alle menschlichen Anklänge tabu.«
»Von wessen Hochzeit sprechen Sie?«
»Eine Arbeitskollegin von Larissa heiratete, ich war der Trauzeuge des Bräutigams. Das war wirklich Zufall, eine Konstellation, die es eigentlich nicht geben durfte. Also, ich sah Larissa, sie sah mich. Die Braut stellte uns einander vor. Wir versuchten, uns während der ganzen Feier aus dem Weg zu gehen.«
»Aber dann schliefen Sie miteinander.«
»Sie hören die feinen Nuancen, Frau Laverde!« Er lachte.
Ich grinste. Alex gehörte jedoch nicht zu den Männern, die eine mitwisserhafte oder schlüpfrige Reaktion erwarteten.
»Wir sahen uns von da an regelmäßig. Beide wussten wir, dass hinter den Kulissen die Vorbereitungen für Larissas Flucht liefen. Sie sollte mit einem LKW rauskommen. Das erforderte eine Menge Kleinarbeit und Geld. Wir sprachen nie darüber, denn wir waren uns natürlich im Klaren, dass mit der Flucht, würde sie gelingen oder auch nicht, unser Zusammensein für immer beendet wäre.«
»Aber die Flucht wurde verraten«, wandte ich ein.
»Ja.« Alex’ Gesicht versteinerte.
»Wer hat sie verraten?«
Ich hatte mit dem Gedanken gespielt, dass Alexander Finkenstedt selbst Larissa denunziert hatte. Vielleicht unter Druck. Vielleicht aus Eifersucht. Man konnte nie wissen. Aber seine Antwort riss mir den Boden unter den Füßen weg.
»Es war Milena.«
Das musste ich erst mal verdauen. Ich stemmte die Hände in die Hüften. »Warum? Weshalb sollte ausgerechnet Milena … ? Larissas eigene Cousine? Sie war ein Kind! Sie ist 1968 geboren. Als Larissa verhaftet wurde, war sie fünf!«
»Eben. Sie war ein Kind. Der ideale Spion. Merken Sie, wie infam das System war? Milenas Vater Wolfgang, Larissas Onkel, muss zu Hause von Larissas Plänen gesprochen haben. Larissa war unvorsichtig, vertraute ihm gegen jede Vernunft. Kinder haben Ohren wie Satellitenschüsseln. Jedenfalls marschierte Klein-Milena, ganz das brave, sozialistische Mädchen, zur Kindergartentante und sagte: ›Meine Cousine fährt mit einem Laster über die Grenze.‹«
»Aber … «
» Ich habe Larissa gewarnt. Der LKW , mit dem sie geholt werden sollte, wurde an der Grenze aufgehalten. Der Fahrer verständigte die Kontaktperson. Es war ihm komisch vorgekommen, dass die Grenzer ihn schließlich doch durchgewinkt hatten. Er hatte den richtigen Riecher. Der Kontaktmann meldete sich bei mir, und ich radelte zu Larissa, um sie zu warnen. Damit sie die Wohnung nicht verließ, um zu dem Treffpunkt zu gehen. Wenn man sie dort aufgegabelt hätte … « Alex sah durch mich hindurch. »Noch in derselben Nacht wurde ich verhaftet.«
Ich war völlig verwirrt.
»Auch bei Larissa stand die Stasi auf der Schwelle.« Alex nickte versonnen. »Doch sie konnten nichts aus ihr herauskriegen. Sie hielt sich tapfer. Blieb bei der Story, dass ihr jemand etwas anhängen wolle. Nun zahlte sich aus, dass sie nie offen gegen den Staat gesprochen, nie rebelliert hatte. Sie war nie mit dubiosen Leuten – im Sinne der Stasi – gesehen worden. Das rettete ihr Leben! Nach wenigen Monaten war sie wieder auf freiem Fuß.«
»Aber wie kamen Sie in die Bredouille?«
»Ich wurde verpfiffen. Mich hatten sie schon lange unter Beobachtung. Mein Vater hat das veranlasst. Er hat mich observieren lassen.« Er schwenkte den Kopf hin und her, als müsse er die Erinnerung abschütteln.
»Die Stasi hat über Ihre Beziehung zu Larissa Bescheid gewusst?«
»Klar.«
»Was passierte mit Larissas Onkel?«
»Wurde ins Gebet genommen, aber er behauptete steif und fest, er wüsste nicht, wovon hier irgendjemand redete. Seine Tochter müsse da irgendwas ganz falsch verstanden haben. Sie sei ja noch so klein. Wolfgang Roth war ein Schwerenöter, einer, der Menschen einwickeln konnte. Er ist erst mit über 50 Vater geworden, hatte vorher schon zwei Frauen verschlissen, war zweimal geschieden. Larissa hat nach ihrer Entlassung wieder Kontakt zu einer Organisation aufgenommen. Sie wollte raus. Um alles in der Welt.«
Wir gingen durch den nassen Sand, nah an der Wasserlinie, ab und zu einer Welle ausweichend, die nach unseren Schuhen griff.
»Larissa hat mich gebeten, Katjas Mörder zu finden«, sagte ich. »Können Sie mir dazu etwas sagen?«
Er seufzte tief. Von der Seite hob sich sein Profil vor dem dunkler werdenden Himmel ab. »Katja war ein ernstes Mädchen. Mit neun Jahren schon sehr verständig. Hatte
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