Fliehganzleis
manchmal Heimweh, damals, in diesen Ferien. Sie war eine Einzelgängerin, und in einer Gesellschaft, die das Kollektiv vergöttert, hatte sie daher nicht die besten Ausgangsvoraussetzungen. Können Sie sich das vorstellen? Wie wir gelebt haben?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Es ist 40 Jahre her. Katja, sie war damals unendlich viel jünger als ich. Ich war 15, sie neun. Heute wäre sie 49, da hätten die sechs Jahre nun wirklich keinen Unterschied mehr gemacht.«
»Nein.«
»Wir hatten dort am Balmer See ein paar Paddelboote. Schliefen in Zelten, wuschen uns im See.« Er wies nach Westen, wo der Himmel sich in grellem Orange über der Steilküste wölbte. »Sie haben sich die Stelle sicher angeschaut. Heute steht da ein schickes Golfhotel. Damals wussten wir gar nicht, was Golf ist.«
Der Wind wälzte Wolken auf das Land zu. Es würde bald zu regnen beginnen.
»Jedenfalls ging Katja an jenem verhängnisvollen Tag alleine rudern. Das war natürlich total verboten. Einzelaktionen sah mein Vater nicht gern. Er war der Verantwortliche, auf sein Wort hatten alle zu hören.«
»Auch Ihre Mutter?«
»Ja. Auch meine Mutter.«
»Erzählen Sie weiter von Katja.«
»Sie ruderte auf den See, kam mit den Rudern aber nicht zurecht. Eines glitt ihr aus der Hand, als sie das Boot schon wieder festmachte, und trieb rasch auf den See hinaus. Das Wetter wurde schlechter. Die Strömung veränderte sich. Mein Vater geriet in Rage.«
»Aber dann schickte er sie weg?«
»Er hasste Katja. Ihre Eltern waren keine konformen Leute. Keine überzeugten Sozialisten, sondern katholisch.«
»Simona Mannheim hat mir davon erzählt.«
»Ja. Simona.« Alex schwieg.
Es begann zu tröpfeln. Ich zog die Kapuze über meinen Pferdeschwanz. Alex störte sich nicht am Regen.
»Mein Vater machte einen irrsinnigen Aufstand«, redete er weiter. »Das Ruder würde allen gehören, und Katja sollte nur zusehen, dass sie es wiederbekäme, denn sonst würde Volkseigentum abhandenkommen – ach, was weiß ich.« Ein feines Tremolo schlich sich in Alex’ Stimme. »Diese Phrasen machen mich heute noch fertig.«
Ich sah die Szene vor mir. Eine verängstigte Neunjährige, zusammengestaucht von einem cholerischen Ideologen, hätte jedes Risiko auf sich genommen, um wieder hoffähig zu werden.
»Also ist Katja losgegangen. Obwohl ein Unwetter aufzog«, fuhr ich an Alex’ Stelle fort.
»Sie konnte gut schwimmen. Ein kleines Kraftpaket war sie. Aber gegen die Strömung kam sie nicht an.«
»Sie hat sich überschätzt«, ergänzte ich. »Ist weit hinausgeschwommen, um dann festzustellen, dass ihre Kräfte für den Rückweg nicht ausreichten.«
»Aber da war es zu spät!«, schrie Alex. »Zu spät!«
Es war kein Mord. Nie im Leben. Fahrlässige Tötung vielleicht. Verletzte Aufsichtspflicht. Körperverletzung mit Todesfolge. Aber kein Mord. Reinhard Finkenstedt hatte dem Mädchen nicht den Hals umgedreht. Sich nicht die Hände schmutzig gemacht. Niemanden dazu angestiftet. Er hatte nur abgewartet.
»Sie haben sie ein paar Stunden später im Schilf gefunden. Auf der dem Lager abgewandten Seite«, sagte Alex. Er lief ein paar Schritte, bückte sich, grub seine zarten Hände in den Sand. Warf den Sand in hohem Bogen in alle Richtungen und über sich selbst. Ich wartete, bis er sich beruhigt hatte. Zitternd wischte er sich die Finger an den Bundfaltenhosen ab.
»Entschuldigen Sie.«
»Es gibt nichts zu entschuldigen.«
Er machte eine abfällige Handbewegung.
»Sie haben Larissa davon erzählt, nicht wahr?«, fragte ich. »Schon damals. Das wollte aus Ihnen heraus, der Hass auf Ihren Vater, Ihr Entsetzen über Katjas Tod.«
»Katjas Tod hat in Leipzig die Runde gemacht. Wer nicht auf den Ohren saß, kriegte Wind davon. Die Empörung war groß, aber niemand konnte etwas tun.«
Ich wandte mich dem Meer zu und atmete tief durch.
»Larissa wird sterben, nicht?«, fragte er.
Die Verlorenheit in seinem Blick tat mir weh. »Wahrscheinlich.«
Ein fanatisches Glimmen stahl sich in Alex’ Augen. »Dann ist er diesmal dran. Er ist dran.«
»Wer?«
Er schwieg.
»Nachdem Sie aus der Klinik entlassen waren, haben Sie die alten Kämpfer zusammengetrommelt. War es so?«, fragte ich. »Simona Mannheim, Gerrit Binder, Kendra White, vielleicht ein paar andere. Sie wollten eine verschworene kleine Truppe gegen Ihren Vater in Stellung bringen.«
»Ich habe Larissa um die Tagebücher meiner Mutter gebeten. Sie wollte nicht damit herausrücken. Wir haben ein bisschen
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