Fliehganzleis
See. Es ist Sommer. Uhrzeit?«
»Sie muss ungefähr zwischen neun und halb zehn losgegangen sein. Nach 21 Uhr hat niemand sie mehr gesehen.«
»Also ist es noch hell. Es ist Hochsommer. Aber ein Unwetter zieht auf. Wolken treiben über den Himmel. Sommerwolken, die heftigen Regen und Gewitter bringen. Außerdem blies bestimmt ein starker Wind.«
»Der Regen brach ungefähr um 21.40 Uhr los«, sagte Nero. »Dönges’ Angaben sind relativ genau, weil die Kriminalpolizei sich beim Meteorologischen Dienst der DDR die Daten bestätigen ließ. Man wollte ja Katjas Unfall darauf münzen, dass sie sich nicht an die Anweisungen der Erwachsenen gehalten hat und trotz des schlechten Wetters baden gegangen ist.«
›Baden gegangen‹, dachte ich, ist der passende Ausdruck, wenn man es metaphorisch sieht.
»Ein neunjähriges Mädchen steht im Schilf und überschlägt seine Chancen«, sagte ich. »Sie wird angemotzt, weil sie ein Ruder versemmelt hat. Will es wiederhaben. Aber dann rollt dieses Gewitter an. Es ist empfindlich kühl und das Wasser nicht gerade einladend.« Ich ging in die Hocke und tauchte die Hand in den blaugrauen See. »Eiskalt!«
Nero setzte sich auf einen Poller.
»Sie ist mit Todesverachtung ins Wasser gegangen«, war ich überzeugt. »Jemand muss ihr wahnsinnige Angst eingejagt haben, sonst wäre sie nicht rausgeschwommen.«
»Es könnte sein, dass sie das Ruder sogar auf dem Wasser treiben sah und meinte, es locker erreichen zu können«, sagte Nero.
»Aber wenn Gewitterwolken aufziehen, schlucken sie das Licht. Vielleicht bildete Katja sich ein, das Ruder zu sehen, irgendwo draußen auf dem See. Das könnte auch der Schatten einer Welle gewesen sein. Mensch, Nero, selbst bei Tageslicht erkennst du weiter draußen doch kein Stück Holz mehr!«
»In den Akten steht, Katja sei eine gute Schwimmerin gewesen.«
»Wie ich«, dachte ich laut. »Ich war die reinste Wasserratte. Keiner kriegte mich aus dem Pool raus.«
Nero nahm meine Hand in seine.
»Sind dir Schwimmhäute gewachsen?«
»Ja, aber im Laufe der Zeit haben sie sich zurückgebildet.«
56
Juliane hatte zwei Zimmer im Forsthaus Langenberg gebucht, das auf der Steilküste nordwestlich von Bansin lag. Nero und ich fuhren mit dem Wagen durch den Wald hinauf, über alte Wege aus Betonplatten, die inzwischen in trauter Nachbarschaft mit den Wurzeln der Bäume zusammenlebten.
Das Hotel erhob sich an exponierter Stelle 50 Meter über dem Strand. Der Wind pfiff hier oben besonders heftig, und die Brandung des Meeres dröhnte lauter als unten. Die Baumwipfel rotierten wie außer Kontrolle geratene Quirle. Juliane empfing uns auf dem Parkplatz am Steilhang.
»Na, Kinder? Hattet ihr einen schönen Tag?«
»Bestens.« Ich verdrehte die Augen. »Wie war eure Reise?«
»In Ordnung. Dolly hat sich hingelegt. Wir haben gestern in Potsdam übernachtet, aber die Fahrt hat sich doch ganz schön hingezogen.«
Ich sah Juliane an, dass sie sich Sorgen um ihre Schwester machte. Während wir plauderten, ging Nero ein paar Schritte zum Steilhang hinüber und gab sich der Aussicht hin.
»Traumhaft hier«, sagte ich. »Bestimmt wird Dolly sich erholen. Ich bin schon nach knapp 24 Stunden ein neuer Mensch.«
»Pass auf«, zischte Juliane und hakte sich bei mir ein. »Bevor Nero wiederkommt: Vor einer Stunde habe ich drüben im Restaurant einen Kaffee getrunken. Da kam ein Typ auf mich zu. Vielleicht 40, vielleicht 50 Jahre alt. Sah aus wie seit Jahren ungeküsst. Ein Hänfling. Er will dich treffen. Heute Abend um 21 Uhr am Strand von Bansin, unterhalb des Promenadenhotels Admiral.«
»Heute … ?«
»Dich allein. Ohne Nero.«
»Aber Juliane … «
»Er sah mir so aus, als hätte er dir etwas Wichtiges mitzuteilen. Mir gegenüber wollte er mit der Sprache nicht raus. Also sieh zu, dass du … «
»Aber … «
»Kannst du auch noch was anderes sagen als ›aber‹?«, fauchte Juliane mich an.
Aus den Augenwinkeln sah ich Nero zurückkommen.
»Meinst du, das war Alex Finkenstedt?«
»Woher soll ich das wissen? Er hat mir keine Visitenkarte übergeben.«
»Aber woher kennt er dich?« Ich spürte die Panik heranstürmen.
»Frag mich was Leichteres.«
»Frau Lompart«, Nero hielt Juliane das Foto von Reinhard Finkenstedt hin. »Könnte das der Mann gewesen sein, der Kea anfuhr?«
Juliane nahm ihm das Foto aus der Hand und betrachtete es mit gerunzelter Stirn. »Möglich. Die Visage war so eckig wie die von dem Typ hier. Aber andererseits, seine
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