Fliehkräfte (German Edition)
darum, den Jargon seiner Disziplin gegen das einzutauschen, wovon diese handelte: normale Sprache. Dann merkte er, dass ihre Aufmerksamkeit größer wurde, je weniger Zurückhaltung er sich auferlegte, also sprach er wie im Seminar. Ein einziges Mal schaffte er es, ihr ein Lächeln zu entlocken. Wen außer Austin und Searle sie noch lesen müsse, fragte sie, und er antwortete ohne nachzudenken: »Die Doktorarbeit von Hartmut Hainbach.«
»Die jede gute Buchhandlung zu kaufen ... verkauft.« Sofort wurde sie wieder ernst, steckte sich die Zigarette zwischen die Lippen und zog die Augenbrauen nach oben. Als die Glut heller wurde, konnte er den dunklen Kreis ihrer Pupillen erkennen.
»Leider gibt es sie nur auf Englisch und in wenigen Exemplaren.«
»Ich geb dir meine Nummer.« Aus der Tasche ihres Parkas zog sie Notizbuch und Kuli hervor.
»Du musst die nicht lesen, das war ein Witz. Die Arbeit ist furchtbar trocken.«
Kopfschüttelnd schrieb sie ihm die Nummer auf und gab ihm den Zettel.
»Gehört zur Wohnung nebenan, aber du kannst fragen nach mir.«
»Wo kommst du her?«
»Portugal. Ruf mich an, ja? Und ein Exemplar von der Arbeit. Ich hab kein Geld.« Sie gab ihm noch einmal die Hand und ging zurück zu ihrer Gruppe. Dietmar hatte sich schon vorher abgesetzt. Der Park wurde leer, Hartmut sah kleine Grüppchen zum Mehringdamm ziehen. Im Osten stand die Kugel des Fernsehturms über der Stadt wie ein blinkendes Raumschiff. Erst jetzt fiel ihm ein, dass er oft hierhergekommen war, als Hans-Peter in der Nähe gewohnt hatte. Sein alter Freund, der in den USA Karriere machte und dessen Name ihm gelegentlich in Büchern und Aufsätzen begegnete. Damals waren sie diskutierend durch den Viktoriapark gelaufen, aber noch nie hatte er ihn so zugeschneit gesehen wie jetzt.
Alles schimmerte bläulich im Mondlicht. Hartmut blickte sich um und hätte nicht sagen können, was ihn plötzlich traurig machte. Von der Wiese aus winkte Tereza ihm zu. Wozu sich was vormachen, dachte er. Bevor er den Abhang hinabging, zerriss er den Zettel in kleine Fetzen und ließ einen nach dem anderen in den Schnee rieseln.
Auch der zweite Teil des Heiligen Abends folgt dem bewährten Muster. Nach der Kirche geht Hartmut mit den Zwillingen ins Spielzimmer, damit Ruth und Heiner die Bescherung vorbereiten können. Die Zeit für ruhige Brettspiele ist vorbei, während der letzten halben Stunde wird getobt. Die beiden stürmen aufihn ein, stoßen sich die Köpfe und stürmen erneut auf ihn ein. Ein Knopf seines Hemdes rollt über den Teppich, dann endlich ertönt am Fuß der Treppe ein leises Klingeln. Augenblicklich lassen die beiden von ihm ab und rasen nach unten. Als Hartmut im Wohnzimmer ankommt, liegt schon zerrissenes Geschenkpapier über den Boden verteilt. Kerzenlicht spiegelt sich in den Fensterscheiben. Das ist der Moment, in dem er für einige Sekunden an Marsha Hurwitz denkt, deren Season’s Greetings die Berliner Post vermutlich als unzustellbar zurückgesendet hat. Ruth schaut in seine Richtung, als frage sie sich immer noch, wie aufrichtig er gemeint hat, was sie ihm gestern nicht abnehmen wollte.
Nach der Bescherung fährt Hartmut nach Arnau, wo seine Eltern wartend am Küchentisch sitzen. Eine Wäschewanne voller Geschenke steht in der Mitte des Raums, der so überheizt ist, dass ihm beim Eintreten der Schweiß ausbricht. Dieselben Möbel, dieselbe niedrige Decke, an die er fast mit dem Kopf stößt. Derselbe Brandgeruch des Ofens, wie eine unsichtbare Spur aus der Vergangenheit. Seine Mutter schärft ihm ein, am Gefrierhaus zu halten, um Eis für die Kinder einzupacken.
Draußen kommt ihm die Nacht kühler vor. Der Himmel ist klar, und aus den Fachwerkhäusern ringsum dringt kein Laut, nur das Blinken von elektrischer Weihnachtsdekoration. Mit einem Stöhnen hievt er die Wanne in den Kofferraum. Von der Haustür folgen ihm bedächtige Schritte und das nervöse Licht einer Taschenlampe.
»Alles klar?«, fragt er, als alle angeschnallt sind. Seine Mutter legt ihm eine Hand auf die Schulter.
»Zum Gefrierhaus, ja.«
Es handelt sich um das Relikt aus einer Zeit, als private Tiefkühlschränke die Ausnahme waren. Ein garagengroßer Bau mit dicken Glasziegeln anstelle von Fenstern, der jetzt beherbergt, was die Geräte zu Hause nicht fassen können. Drinnen empfangen ihn Kälte und ein leises Summen. Gewölbte, nummerierte Schranktüren, jeweils drei Reihen übereinander. Die Neonröhren an der weißen Decke tauchen den Raum
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