Fliehkräfte (German Edition)
klang plötzlich anders. Gefasst und beinahe gespenstisch ruhig. »Als Philippa mit ihren Freunden in Amsterdam war? Über Pfingsten.«
»Ich weiß, dass sie in Amsterdam war. Welches Gespräch?«
»Darüber, ob sie Drogen nimmt oder schon mal genommen hat.«
»Okay.«
»Dass wir in dieser Hinsicht wenig wissen über sie. Vielleicht genauso wenig, wie unsere Eltern über uns wussten. Erinnerst du dich?« Sie sprach, als wäre nichts geschehen. Buchstäblich nichts, weder Schlimmes noch Gutes, keine Vorgeschichte, obwohl sie genau davon redete.
»Du hast gesagt: Und wenn schon, wir haben alle schon mal einen Joint geraucht. Richtig?«
»Und du hast gesagt, du nicht.«
»Ich nicht. Nein. Wie kommst du darauf?«
»Daraufhin hab ich gesagt, dass das eigentlich nicht geht, wenn man dein Alter bedenkt und aus welcher Generation du kommst. Keinen einzigen Joint, ich fand das merkwürdig. Du kannst dich dagegen wehren, aber irgendwie bist du trotzdem ein Achtundsechziger.«
»Nicht in den Augen der Achtundsechziger. Und in meinen auch nicht. Ich ...«
Maria unterbrach ihn mit einer Handbewegung. Nahm einen tiefen Zug und drückte die Zigarette aus, obwohl sie erst zur Hälfte aufgeraucht war. Auf einmal musste Hartmut sich vorstellen, wie es wäre, wenn Maria nie wieder lachen oder ihn zärtlich berühren, sondern ihre Ehe fortsetzen würde in einem Modus, der im Arbeitsleben ›Dienst nach Vorschrift‹ heißt. Wie das zum Beispiel im Bett aussähe, lustlose Fünfminutenakte, runterrollen und einschlafen – grotesk, aber für einen Moment sah er es als reale Möglichkeit seiner eigenen Zukunft. Er war nah davor, sich vor Angst zu übergeben.
»Eigentlich dachte ich, wir machen das morgen in Bonn«, sagte Maria. »Setzen uns auf die Terrasse und feiern den Beginn unseres Urlaubs. Deine verspätete ..., wie nennt man das? ... Initiation.«
»In was?«, fragte er, obwohl er es wusste.
Aus ihrer Handtasche holte sie ein metallenes Pfefferminzschächtelchen und entnahm ihm eine selbstgedrehte Zigarette. Sie machte kein Aufhebens darum, und Hartmut verstand, dass es jetzt besser war, möglichst wenige Einwände zu erheben.
»Wo hast du das her?«
»Du kannst mitrauchen oder es bleibenlassen. Wie du willst.«
»Wir müssen zu der Hochzeit. Ob wir wollen oder nicht.«
Sie hatte das spitze Ende des schmalen Kegels bereits im Mund und griff nach dem Feuerzeug. Ihre Hände zitterten immer noch.
»Von wollen kann keine Rede sein. Das hier ist die einzige Möglichkeit, für mich jedenfalls. Du hast wahrscheinlich vor, später ordentlich zu trinken.«
»Seit wann rauchst du ... solche Sachen?«
Zum ersten Mal sahen sie einander an, er fragend und sie streng. Das neue Kleid stand ihr gut, die ernste Miene und sogar die getrockneten Spuren ihrer Tränen. Alles, was dem Eindruck dieser unheimlichen Gefasstheit zuwiderlief. Sie hob die Hände, als wollte sie ihn am Kragen fassen und schütteln, und er wünschte, sie würde es tun: ihn anschreien und notfalls noch einmal schlagen, stattdessen beschützte sie mit einer Hand die Flamme, zündete die kleine Tüte an und nahm den ersten tiefen Zug. Ließ den Mund halb offen und wartete einige Sekunden, bevor sie ausatmete. Dann hielt sie ihm den Joint hin.
Ohne sich zu zieren, nahm Hartmut ihn und zog, so tief er konnte. Spürte ein Klopfen im Hals, als besäße der Qualm festere Konsistenz als Luft. Der Geschmack entsprach dem, was er gerochen hatte, Tabak versetzt mit Räucherstäbchen und Gewürzen. Beim Ausatmen hatte er das Gefühl, nach hinten zu sinken. In den Fingerspitzen kribbelte es.
»Noch mal«, sagte Maria.
«Machst du das oft in Berlin? Mit deinen Theaterleuten.«
»Versuch, ihn länger drinzubehalten und an was Schönes zu denken.«
»Sonst komme ich auf einen schlechten Trip?«
»Es ist Gras, Hartmut. Versuch, dich zu entspannen. Denschlechten Trip hatten wir gerade.« Vielleicht war es bereits die Wirkung des Rauschgifts, dass ihre Stimme um einige Grade wärmer klang. Der Geschmack wurde intensiver, nicht im Mund, sondern tiefer in seinem Kopf. Außer einem Brötchen zum Frühstück hatte er nichts gegessen, und er spürte einen Anflug von Schwindel. Oder war es der Wind? Zwischen Daumen und Zeigefinger reichte er ihr den Joint zurück.
»Ziemlich stark«, flüsterte Maria nach dem nächsten Zug.
Eine Weile rauchten sie schweigend und im Wechsel. Empfindungen reihten sich aneinander, leichte Übelkeit, die Sorge, zu spät in die Kirche zu kommen,
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