Fliehkräfte (German Edition)
Lust auf einen Kuss und der stärker werdende Drang zu lachen. Darum also gab es Drogen, dachte Hartmut, und dass sie eigentlich in den Erste-Hilfe-Kasten jeder Ehe gehörten. Er war nicht berauscht, nur ein wenig entrückt, und der Wind in den Bäumen flüsterte lauter als zuvor. Einzelne Wolken zogen über die Landschaft, ihre Schatten glitten wie Rochen über den Boden, das Lahntal hinab und über den Schlossberg. Als Maria sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich, konnte er ihre Hand an seiner Wange spüren. Das meiste fühlte sich gut an. Das langsame Aufkommen einer Nähe, die unmerklich Gestalt annahm. Wie zum Beweis ihrer selbst.
»Gut«, sagte er, um zu testen, ob Gedanken ohne Mühe herausfanden aus seinem Kopf. Er spürte den Weg, den sie zurücklegen mussten, und überhaupt die räumliche Voraussetzung von Gedanken: der Abstand, dessen sie bedurften. Wie schön die Braut ausgesehen hatte gestern Abend, deren Name ihm nicht einfallen wollte. Irgendwas mit K. Dass Philippa sich schicker hätte anziehen können für den Anlass. Ein Gedanke gab den anderen, sie hingen zusammen wie die Glieder einer Kette. Seinen Anzug hatte er vor zwei Wochen in die Reinigung gegeben und sich eine neue Krawatte gekauft. Zuletzt getragen, den Anzug, auf Stan Hurwitz’ Beerdigung vor drei Jahren. Weit über ihnen kreiste ein Bussard. Als er zum ersten Mal betrunken gewesen war, hatte er nicht gewusst, ob er wirklich so heftiglachen musste oder sich bloß verhielt, wie er es von einem Betrunkenen erwartete. Manchmal war es schwierig, sich selbst bei einer klaren Empfindung zu ertappen. Gefühle sind bewegliche Ziele. Man hat sie nicht, sie reisen bloß durch.
»Jetzt sind wir bekifft.« Er dachte, er hätte das halblaut vor sich hin gesagt, aber es klang eindringlich, beinahe beschwörend.
»Schsch ...« Maria streckte eine Hand aus und legte sie ihm sanft auf die Lippen. Er küsste ihre Fingerspitzen. Am liebsten hätte er sich die ganze Hand in den Mund gesteckt.
Der letzte Zug brannte in seiner Kehle, dann trat Maria den Stummel auf dem Boden aus. Lehnte sich zur Seite und legte ihr Gesicht an seinen Oberarm. Immer neue Wolken glitten über den Himmel, und Hartmut zwang sich, die Augen offenzuhalten. Er fragte sich, ob es ein schöner Moment war, den sie gerade erlebten. Was dafür sprach und was dagegen, obwohl er zu wissen glaubte, dass die Gründe in keiner Beziehung standen zu dem, was den Moment ausmachte. Der führte ein Eigenleben, unbehelligt von den Gründen. Irgendwo in dem Gedanken steckte etwas, das mit seinem Leben zu tun hatte.
»Glaubst du, dass wir in völliger Verwirrung leben?« Maria hob den Kopf, und Hartmut erinnerte sich, wie sie ihn auf der S-Bahn-Fahrt nach Ost-Berlin gefragt hatte, ob seiner Meinung nach Endstation Sehnsucht ein gutes Theaterstück sei. 1985, wenige Stunden vor ihrem ersten Kuss. Wie damals meinte sie es nicht beiläufig.
»Du und ich?«
»Wir alle. Unsere Art zu leben.«
»Wahrscheinlich.«
»Ich will das nicht.« Genau wie er war sie einem Gedanken auf der Spur, der sich nicht direkt angehen, sondern nur umkreisen ließ. »Es muss auch anders gehen.«
»Wenn ich ehrlich bin«, sagte er, »will ich nur wissen, dass es für dich und mich nicht zu spät ist. Dass Philippa glücklich wird und ich im Alter keinen Krebs bekomme oder so was.Ansonsten können wir meinetwegen in Verwirrung leben. Aber zusammen, wie jetzt.«
»So wie jetzt. Langsam bergab.«
»Wir sollten öfter einen Joint rauchen. Es gefällt mir.« Er setzte sich ihr rittlings gegenüber. Unterhalb der Hütte liefen zwei Jogger den Waldweg entlang, Hartmut sah ihre Köpfe auf und ab tanzen zwischen den Ästen der Bäume. Maria nahm sein Gesicht in beide Hände und küsste ihn. Im Spaß hatte sie mal gesagt, jede Ehe stelle einen Fall von Stockholm-Syndrom dar, aber jetzt meinte sie es ernst. Er zog sie dichter zu sich heran, bis sie auf seinem Schoß saß und er seine Erektion spürte. Ein warmer Wind fuhr durch die Bäume, und Hartmut wusste, dass sie aufbrechen mussten. Maria schmeckte wie damals, nach Tabak, gesüßtem Kaffee und noch etwas, für das es kein Wort gibt. Ein wenig herb. Wie sie immer geschmeckt und ihn schon lange nicht mehr geküsst hat. Seine Erleichterung ist so groß, dass der Moment seine Konturen verliert und durchlässig wird. Stimmen erklingen, die nicht vom Waldweg kommen. Sie sprechen eine fremde Sprache. Seine Hände fahren über Marias Rücken, über den Träger ihres BHs,
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