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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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und er denkt, dass es nur ein Traum gewesen ist. Fühlt er Erleichterung oder Bedauern? Die Stimmen werden lauter, Schritte nähern sich, und um sie herum wächst die Lichtung. Wir müssen gehen, will er sagen, aber bevor er den Mund aufmachen kann, fährt ein schriller Ton dazwischen. Erklingt und erlischt, erklingt und erlischt. Es ist keine Trillerpfeife, sondern wie in einem Film, den er vor langer Zeit gesehen hat. Das alles durchdringende Läuten der Welt in seinem Ohr ...
    ... Hartmut liegt auf dem Rücken und öffnet die Augen. Ein Zimmer mit weißen Wänden und einer schrägen Decke aus Holz. Nichts als verschwommene Flächen für seine kurzsichtigen Augen. Das Dachfenster steht einen Spaltbreit offen, so dass Stimmen und Schritte von der Straße hereinwehen. Sohlen auf Granit vor der Kirche San Miguel. Er ist in Santiago de Compostela, und das Telefon klingelt. Träge streckt sich Hartmut über die unbenutzte Seite des Doppelbettes zum Nachttisch. Der Tag beginnt wie ein Puzzle mit fehlenden Teilen. Weckt ihn die Rezeption, weil er verschlafen hat? Hat er gestern um einen Weckruf gebeten?
    »Hallo?«, sagt er, noch bevor er sich aufgestützt und den Hörer ans Ohr gehalten hat. Dann »Hello?« und schließlich »Hola?«, während draußen die energische Stimme eines Reiseführers Erklärungen vorträgt. Wo liegt seine Brille?
    Aus der Leitung kommt ein knapper Wortwechsel, dann zitiert Philippa einen Spruch aus ihrer Kindheit, der alles noch komplizierter macht: »Sie müssen aufstehen, Fürst, wir haben heute Großes vor.«
    »Guten Morgen.« Im Liegen zieht er das Telefon übers Bett. Zu Tagesbeginn will nichts einen Sinn ergeben, solange das Milchglas seiner Kurzsichtigkeit über der Welt liegt. Er tastet nach seiner Brille und findet sie, endlich nimmt das Zimmer Gestalt an. »Wie spät ist es, und was haben wir heute Großes vor?«
    »Halb zehn. Als Erstes wird gefrühstückt.«
    »Okay. Von wo rufst du an?«
    »Von der Rezeption. Wir hatten halb zehn vereinbart, falls du dich erinnerst. Offenbar hast du gut geschlafen.«
    »Ich glaube schon.« Sein Traum steht ihm vor Augen, und er ist nicht sicher, welcher Welt er den Vorzug gäbe, könnte er zwischen ihnen wählen. Der angebrochene Tag übernimmt das schwierige Erbe seines Vorgängers und wie um das zu unterstreichen, fügt Philippa hinzu: »Wenn’s dir nichts ausmacht, frühstücken wir zu dritt.«
    »Okay, klar«, sagt er, so schnell er kann. Automatisch hat er sich im Bett aufgesetzt. Die Unordnung in seinem Kopf kontrastiert mit der Aufgeräumtheit des Zimmers, den ordentlich neben der Tür platzierten Schuhen und seinen über die Stuhllehne gehängten Kleidern. »Gib mir eine Viertelstunde.«
    »Wir sitzen im Frühstückssaal. Hast du Continental Breakfast oder das Büfett gebucht?«
    »Hab ich was?«
    »Hallo!«, sagt sie lachend. »Schläfst du noch, oder bist du nervös?«
    »Nervös«, antwortet er, bevor er sich was anderes überlegen konnte.
    »Ich auch. Wenn wir uns beide Mühe geben, wird alles gut. Gabriela ist sowieso ein Engel.«
    Ein Engel. Das sagt er gelegentlich über Maria, allerdings nicht in ihrem Beisein. An der Art, wie Philippa es gerade ausgesprochen hat, kann er hören, dass besagte Gabriela neben ihr steht. Von der war gestern lange Zeit keine Rede, bis Philippa gefragt hat, ob er gar nichts wissen wolle über ihre Freundin. Sie studieren beide dasselbe Fach, Ernährungswissenschaft, aber Gabriela schreibt bereits an ihrer Diplomarbeit. Kommt aus Galicien und versteht folglich Portugiesisch. Einzelkind wie Philippa. Soweit die Fakten.
    »Ich glaube, es war Büfett«, sagt er nach einer Pause. »Bestellt einfach, was ihr wollt. Ich beeile mich.« Vor dem Auflegen glaubt er die Stimme der Freundin zu hören, wie sie ›Okay‹ oder etwas dergleichen sagt. Draußen stoßen Möwen spitze Schreie aus. Über die weißen Vögel hat er sich bereits bei der Ankunft gewundert, schließlich liegt Santiago nicht an der Küste. Fast hundert Kilometer sind es bis zum Cabo Finisterre, wo den Kelten zufolge die Welt zu Ende war. Hat Philippa gestern erzählt. Wer dort anlangte, verbrannte am Abend einen Gegenstand, der das eigene Ich repräsentiert, und badete am nächsten Morgen im Meer, als Zeichen der Erneuerung. Wäre wahrscheinlich das Richtige für ihn. Ein Mal die keltische Runderneuerung.
    Er stellt sich in die offene Luke des Dachfensters und schaut hinaus. Der Blick reicht bis zu den Hügeln hinter der Stadt, von deren

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