Fliehkräfte (German Edition)
höchster Kuppe zwei riesige Fernsehtürme aufragen. Seine Erinnerung an den Traum ist deutlicher als die an den Tag von Florians Hochzeit, aber dass sie seitdem nicht noch einmal zusammen geraucht haben, spricht dafür, dass er eine geschönte Version geträumt hat. Haben sie sich wirklich geküsst? Untenauf der Gasse sieht Hartmut eine Touristengruppe und hört die Stimme der Englisch sprechenden Führerin.
Statt sich zu beeilen wie versprochen, atmet er die kühle Luft des Morgens und lauscht. Eine heitere Verwirrung entsteht, weil die Frau ›truth‹ wie ›truce‹ ausspricht. Gerne würde er Kaffee trinken und den Morgen am Fenster verbummeln. Den florentinischen Charme dieser roten Dächer genießen. Kaum fünf Meter neben ihm gehört die Spitze von San Miguel dem Moos und den Tauben. Schweren Herzens reißt Hartmut sich los und geht ins Bad.
Als er gestern im Café von der Toilette zurückkam, hat er kein weiteres Porzellan zerschlagen, sondern seiner Tochter erklärt, dass er sich kurz schwach gefühlt habe nach der langen Fahrt, weshalb Philippa seine erste Reaktion nicht überbewerten solle. Er sei froh, endlich in Kenntnis gesetzt worden zu sein. Das mag ein wenig steif geklungen haben, aber Philippa hat es akzeptiert; wahrscheinlich war ihr seine Förmlichkeit lieber als die gekünstelte Saloppheit vorher. Später sind sie essen gegangen, und Philippa hat wiederholt gesagt, es sei dumm gewesen, so lange gewartet zu haben. So weit ist alles in Ordnung. Jetzt muss er runtergehen und Gabriela kennenlernen, dann ein paar Mal drüber schlafen und über seinen eigenen Schatten springen – Variationen einer Disziplin, in der er seit Jahren trainiert und eine gewisse Routine ausgebildet hat. Er ist weder geschockt noch entsetzt. Eigentlich ist er gar nichts Bestimmtes, nur überrascht. Maria soll ziemlich verkrampft reagiert haben, also auch nicht besser als er. Wahrscheinlich besteht die Möglichkeit, rückwirkend eine bessere Zensur zu bekommen, wenn er das heutige Frühstück nicht verbockt. In mündlichen Prüfungen wischt er das nervöse Anfangsstottern seiner Studenten gerne mit einem Lächeln beiseite und sagt, ab jetzt, okay?
Okay, erwidert sein Spiegelbild. Weil er sich gestern Morgen nicht rasiert hat, liegt ein dunkler Bartschatten auf seinen Wangen, dessen Beseitigung er auf später verschiebt. Die ausbedungene Viertelstunde ist um.
Im Fahrstuhl fährt Hartmut nach unten und betritt den Frühstückssaal. Leer, bis auf eine vierköpfige Familie und ein jüngeres Pärchen. Schon will er sich in die andere Richtung wenden, zurück in den Korridor, als er die offene Tür am verglasten Ende des Saals bemerkt. Ein schmaler Steg führt über den Innenhof auf eine reich begrünte Terrasse, etwas höher gelegen und von hellen Mauern eingefasst. Von dort winkt Philippa ihm zu, über die Schultern von jemand anderem hinweg und mit beiden Händen, als stünde sie am Heck eines ablegenden Schiffes. Er winkt zurück und geht hinaus.
Angenehm frische Morgenluft empfängt ihn. Erst als die Frau im weißen T-Shirt sich erhebt, stellt Hartmut fest, dass er keine Vorstellung von ihrem Äußeren hatte.
»Bom día«, sagt er in ein freundliches und gleichzeitig ernst blickendes Gesicht. Umrahmt von einer Kurzhaarfrisur, mit der sie sich morgens nicht lange aufzuhalten scheint. Dunkler Teint, schöne braune Augen und ein schmaler, auch beim Lächeln kaum geschwungener Mund. Es muss der feste Händedruck sein, der Hartmut glauben lässt, einer entschlusskräftigen und energischen Person gegenüberzustehen. Auf Ende zwanzig schätzt er sie, jedenfalls älter als Philippa.
»Bom día«, sagt Gabriela und fügt etwas hinzu, das Hartmut nicht sofort versteht. Vier große Schirme und ein Ahornbaum spenden Schatten, obwohl die Sonne noch nicht hoch steht. Aus den Augenwinkeln sieht er kleine Orangenbäume, deren Früchte wie Tennisbälle im dünnen Geäst hängen, und hört das leise Plätschern von Wasser.
»Wieso stehen wir?«, fragt Philippa auf Deutsch. Sie trägt dieselben Klamotten wie gestern, und es dauert eine Weile, bevor Hartmut bemerkt, was sich verändert hat: Der Nasenring fehlt. Proper sieht seine Tochter aus, voller Elan und, tja, eigentlich gar nicht lesbisch.
Kaum haben sie Platz genommen, kommt ein junger Kellner, um ihre Getränkewünsche entgegenzunehmen. Hartmut spürt Philippas Blick auf sich, ein stummes Forschen, das esihm schwer macht, eine nichtssagende Miene zu wahren. Einer der letzten
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