Fliehkräfte (German Edition)
mussten wir einen Joint rauchen, um durch den Tag zu kommen. Meinen ersten und bisher einzigen. Als dein ehemaliger Erziehungsberechtigter verurteile und bereue ich mein Verhalten zutiefst. Sag das bitte Gabriela.«
»Wie sieht es aus, wenn du dich wie ein Irrer aufführst?«
»Nicht gut. Ich bin nicht sicher, ob ich dir die Einzelheiten erzählen will.«
»Worum ging es?«
»Um alles. Darum, dass deine Mutter in Berlin lebt und ich alleine in Bonn. Dass es mir nicht passt, dass sie für Falk Merlinger arbeitet. Ist das so schwer nachzuvollziehen? Und ihrerseits, dass ich mich nicht bemühe, die Gründe für ihre Entscheidung zu verstehen, und ihre Arbeit nicht ernst nehme. Und so weiter, im Rückblick kommt es mir vor wie ein schlechter Film.«
Zum ersten Mal verändert Philippa ihre Sitzhaltung, nimmt die Füße von der Ablage, stellt die Lehne gerade und sagt: »Es ist nicht gerade deine größte Stärke, Dinge durch die Augen anderer Menschen zu sehen.«
»Ist das so?« Noch zehn Kilometer bis zur Raststätte zeigt ein Schild mit den entsprechenden Piktogrammen für Toiletten, Gastronomie und Tankstelle. Sobald Hartmut es erblickt, verspürt er das dringende Bedürfnis, das Auto zu verlassen. »Vielleicht kannst du mich mit einem Beispiel überzeugen.«
»Die Einweihung des Altenheims in Rapa? Das Altenheim, für das Avô sich eingesetzt hat, als er noch Ortsvorsteher war. Nach Jahren wird es endlich eröffnet, es ist sein großer Tag. Der neue Ortsvorsteher hält eine Rede und zählt voller Stolz auf, wie das Dorf in den letzten Jahrzehnten modernisiert wurde. Telefon, Elektrizität, Straßen, die ganze Geschichte. Dass mit dem Altenheim Rapa endgültig zur Ersten Welt gehört, sagt er. Und du – stehst irgendwo in der Menge und murmelst vor dich hin: eins minus.« Sie sieht ihn an, aber diesmal verweigert er den Blickkontakt. »Wahrscheinlich merkst du es nicht. Andere schon. Mama und ich hätten dich am liebsten gewürgt.«
»Ich weiß nicht, ob ich das wirklich gesagt habe, aber ...«
»Ich weiß es! Ich stand neben dir und hab es gehört.«
»Gut, dann war es ein Witz. Wieso darf ich nicht eine spöttische Bemerkung machen, wenn jemand salbungsvolle Reden schwingt? Tue ich in Deutschland auch. Ich fand es übertrieben, bei der Einweihung eines Altenheims von Erster Welt und dergleichen zu sprechen.«
»Während es nicht übertrieben war zu bemerken, dass am Ende sowieso deine Steuern in dem Gebäude stecken. Nein, sag nichts! Wir alle wissen, du findest diese Unterstützung richtig und gut. So hart wie in Deutschland arbeitet man in Portugal zwar nicht, aber es sind nette Menschen, und wenn sie sich weiter Mühe geben, kann man das Minus vielleicht eines Tages in Klammern setzen. Richtig?«
»Philippa, bei allem Respekt, es ist albern, mir solchen Schwachsinn zu unterstellen.«
»Du findest es richtig und gut, vor allem aber musst du deiner Umwelt fortwährend mitteilen, dass du es richtig und gut findest. Um nicht zu sagen, es allen unter die Nase reiben. Ohne zu merken, wie herablassend das ist. Denn dafür müsste man ja die Perspektive wechseln. Ausgerechnet im Urlaub.«
Eigentlich ist es schade, dass seine Tochter ihr rhetorisches Talent in einem drögen Fach wie Ernährungswissenschaften verkommen lässt, statt etwas damit anzufangen. Er könnte sie sich als Sprecherin der Grünen vorstellen. Die nötige Selbstgerechtigkeit bringt sie mit und verfügt außerdem über genug Witz, um Zuhörer nicht zu verprellen. Man kann ihr eine Weile folgen, ohne sich zu langweilen, und irgendwann bemerken, wie einseitig sie die Dinge betrachtet.
»Darf ich deine Aufmerksamkeit auf ein anderes Faktum richten?«, fragt er. »Nämlich die Tendenz meiner Tochter, eine Trennungslinie zu ziehen zwischen mir und dem portugiesischen Teil unserer Familie. Vor allem, wenn wir in Rapa sind. Weder verstehe ich die Sprache noch die Mentalität, meine Fragen sind naiv, und mein harmloser Spott zeugt von deutscher Überheblichkeit. Egal, woran ich Anteil nehme, du signalisierst mir, dass ich mich vergeblich bemühe. Als wolltest du mich in dem Kreis nicht drinhaben.«
»Damit wir uns richtig verstehen, Anteilnahme nennt man es, wenn jemand lesend auf dem Balkon sitzt, bis er zum Essen gerufen wird. Sie drückt sich darin aus, mit großer Geste Weinflaschen zu entkorken, nachdem man allen vorgelesen hat, was auf dem Etikett steht. Übrigens in einem grottigen Portugiesisch.«
»Danke. Ich meinte jedenfalls nicht,
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