Fliehkräfte (German Edition)
Jahr.
»Nächstes Mal weiß ich Bescheid. Jetzt stelle ich Sie durch.«
»Danke.«
Hinter dem Restaurant erkennt Hartmut einen armseligen Spielplatz, wo ein einzelnes Kind auf der Schaukel sitzt. Ervermutet, dass Philippa weint vor Wut und deshalb nicht zurückkommt. Die Bremer Camper scheinen zu beratschlagen, ob einer von beiden sich in die Nähe des ominösen Kerls auf der Bank wagen soll, um etwas aus dem Wohnmobil zu holen. In der Leitung klickt es.
»Ja, Breugmann.« Wie stellen solche Leute es an, dass sie schon mit der Nennung ihres Namens Autorität ausstrahlen?
»Tag, Herr Breugmann. Hainbach hier.«
»Herr Hainbach. Freue mich, von Ihnen zu hören.«
Denkste, denkt Hartmut. Die Hitze umgibt ihn wie eine unsichtbare Hülle. Schweiß läuft ihm über die Haut, und er fühlt sich frei auf eine etwas riskante Weise. Am Nullpunkt, wo alles gleichermaßen möglich erscheint. Oder schlicht egal.
»Haben Sie ein paar Minuten Zeit?«, fragt er.
»Für Sie immer.« Seit über fünfzehn Jahren sind sie Kollegen und haben in dieser Zeit kein privates Wort gewechselt, das nicht unter den Begriff ›Floskel‹ fiele.
»Ich fasse mich kurz, es geht um einen Doktoranden, den ich gerne in Ihre Obhut geben würde«, hört Hartmut sich sagen, als wäre das ein alltäglicher Vorgang. »Ein Chinese, der über Hegel arbeitet. Nicht mein Fachgebiet, wie Sie wissen. Es geht um Geschichtsphilosophie und Metaphysik. Eher Ihr Metier.«
»Das, ähm ...« Sind offenbar nicht die Glückwünsche, die der Kollege erwartet hat. »Handelt es sich um jemanden, der gerade in Bonn anfängt?«
»Er ist seit sechs Jahren hier.«
Hartmut hört Breugmann in den Hörer atmen.
»In welcher Zeit er von wem betreut wurde?«
»Genau genommen von niemandem. Er hat mein Kolloquium besucht und war einige Male in der Sprechstunde, aber Sie verstehen, die Sprachbarrieren, die fachlichen Hürden. Darf ich kurz abschweifen, bevor ich’s vergesse? Ich soll Sie herzlich von Bernhard Tauschner grüßen.«
»In der Tat.«
»Er hat mir das ausdrücklich aufgetragen.«
»Das kommt überraschend. Demnach sind Sie ihm begegnet? Wie geht es ihm?« Tatsächlich hat Breugmann sich bereits wieder gefangen, und Hartmut fühlt den wachsenden Widerstand, gegen den er spricht. Einen wie Breugmann kriegt man nur in die Knie, indem man ihm von hinten auf den Rücken springt. Er sieht ihn vor sich an seinem breiten Schreibtisch. Altes Familienerbstück, Massivholz, wiegt eine halbe Tonne.
»Es geht ihm hervorragend. Nächstes Jahr will er heiraten.«
»Das freut mich aufrichtig«, sagt Breugmann ungerührt. »Der Doktorand, von dem Sie sprachen ...?«
»Ein Herr Lin. Ich will offen mit Ihnen sein, Herr Breugmann. Ich frage deshalb, weil ich erwäge, meine Professur niederzulegen. Ordnung des Nachlasses, würde man in anderen Fällen sagen. Die Sache soll so wenig Wellen schlagen wie möglich.« Damit hat er sich erneut einen kleinen Vorsprung verschafft, das hört Hartmut sofort.
»Ich verstehe nicht. Ihre Professur?«
»Machen wir uns nichts vor. Es gibt Dinge, die funktionieren nicht, wenn man sie in Module einteilt. Oder vielleicht haben sie nie funktioniert, und es gab sie einfach, weil es sie schon so lange gegeben hat. Aber heute? Die Suche nach der Wahrheit, ich meine, wen versuchen wir eigentlich zu täuschen?« Er kann sich nicht helfen, es ist befreiend, so zu sprechen. Als ginge es um Leute, die ihr Geld unterm Kopfkissen bunkern oder versuchen, ohne Elektrizität zu leben. Spinner, von denen man sich gerne lossagt.
»Ich hatte in den letzten Jahren häufiger den Eindruck, dass bei Ihnen eine gewisse Ernüchterung Einzug hält.«
»Sie sind nicht ernüchtert?«
»Doch, schon«, antwortet Breugmann entgegen seinem dem Pathos zuneigenden Temperament. »Aber Sie wissen ja, was man vom Orchester auf der Titanic berichtet. Altmodisch wie ich bin, wäre es mir übrigens lieber, dieses Gespräch von Angesicht zu Angesicht zu führen. Sind Sie im Haus?«
»Ich bin in Portugal.«
»Das macht es schwierig. Darf ich fragen, wie Sie sich Ihren Ausstieg vorstellen?«
»Ich würde ihn gerne möglichst geräuschlos gestalten.«
Breugmann räuspert sich. Wer ihn kennt, weiß, dass jetzt ein längeres und wohlabgewogenes Statement folgt.
»Da Sie gerade von ihm gesprochen haben: Wir hatten den Fall ja bereits einmal. Wobei Herr Tauschner zum Zeitpunkt seines Ausstiegs lediglich Juniorprofessor und erst seit zwei Jahren in Bonn tätig war. Ich meine,
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