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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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Tisch, das blendet schon die ganze Zeit. Tu’s nicht, denkt er, als nehme er innerlich Anlauf. Seine Fußspitze trifft die Tischplatte unterhalb der Kante und schickt das Gestell mit einem halben Salto durch die Luft. Der Schrei der Frau übertönt den Aufprall auf dem trockenen Gras. Halbvolle Flaschen rollen über den Boden.
    Nichts für ungut, will Hartmut sagen. Nehmen Sie’s nicht persönlich. Leider hat er seinen Gegner unterschätzt. Ohne Schrecksekunde springt der Kerl ihm entgegen. Eine Faust streift Hartmuts Ohr, und eine kleine kräftige Hand krallt sich in sein Hemd. Hektisch versucht sein Verstand, die Situation zu erfassen, aber die Wucht des Angriffs reißt ihn mit. Der Boden fühlt sich abschüssig an, als Hartmut nach hinten taumelt.
    Seine Hände fassen Stoff und harte Muskeln. Im Kampf um seine Balance greift er nach allem, was Halt verspricht, und versucht gleichzeitig, den Schlägen des anderen auszuweichen. Nie in seinem erwachsenen Leben hat er jemandem einen Faustschlag versetzt. Es gab Kämpfe auf dem Schulhof, den längst vergessenen Rausch aus tierhafter Wut und Angst. Schweiß und Rotz und manchmal Blut. Bis hierher musste er kommen, um das noch einmal zu erleben. Ein stechender Schmerz in den Fingerknöcheln sagt ihm, dass er getroffen hat. Hart auf hart. Der andere stöhnt. Hartmut weiß nicht genau, was er zuletzt getan hat, aber er tut es noch einmal. Diesmal trifft er am Hals.
    »Nicht!«, ruft Philippa.
    Trotz der Verwirrung entgeht ihm das Absurde der Situation nicht. Vielleicht hat der andere auch nur darauf gewartet, dass jemand ihm querkommt. Sobald man begonnen hat, spielen die Gründe keine Rolle mehr. Vor allem darf er nicht fallen oder die Brille verlieren. Der Kerl ist zwar kräftig, aber einen Kopf kleiner. Riecht nach billigem Rasierwasser. Mit einem Ausfallschritt bekommt Hartmut sicheren Stand, hält den Gegner mit beiden Händen fest, dreht sich, stößt und lässt los. Der Mann verliert das Gleichgewicht und fällt zu Boden. Ausgestreckt bleibt er im Gras liegen.
    Einen Moment lang ist alles ruhig. Vorne bei der Tankstelle hört Hartmut einen Laster starten. Philippa und die Frau haben dem Kampf reglos zugesehen, jetzt erwacht Letztere aus ihrer Erstarrung.
    »Verbrecher sind das!«, ruft sie. Eine mit den Füßen stampfende Figur, die immer noch ihre Plastikschüssel festhält. Trotz der Hitze trägt sie eine Strickjacke und weiß offenbar nicht, was sie tun soll. Hartmuts Blick geht zwischen ihr und dem Mann hin und her, der keine Anstalten macht aufzuspringen, um den Kampf fortzusetzen. Sein Gesicht glänzt in einem unnatürlichen Rot. Drüben auf dem Spielplatz haben die Eltern das Kind von der Schaukel genommen.
    »Gehen wir«, sagt Philippa.
    »Uns einfach zu überfallen!« Schwerfällig wie ein angeschlagener Boxer stützt der Mann sich auf. »Schämen sollten Sie sich.«
    »Selber schuld.« Es klingt wie eine hämische Erwiderung, aber Philippa scheint es mehr zu sich selbst zu sagen. Immer noch kaut sie auf ihrer Unterlippe, eine Geste von früher, die jenen ersten, von Zorn vernebelten Moment der Einsicht begleitet, dass sie sich hat hinreißen lassen. So hat sie einmal vor ihm gestanden, nachdem ein Junge am Strand ihr die Schippe hatte entreißen wollen und sie stattdessen ins Gesicht bekam. Eine vom Arnauer Großvater geschenkte Metallschippe. Das hätte schlimm ausgehen können.
    »Ja. Lass uns gehen.« Was er ihr damals über die Verhältnismäßigkeit der Mittel gesagt hat, könnte heute auch auf ihn zutreffen. Unter seinem linken Auge spürt er ein Brennen, das schnell stärker wird, weil ihm Schweiß übers Gesicht läuft. »Wir gehen«, sagt er in Richtung des Mannes, als müssten sie sich ordnungsgemäß verabschieden, nachdem sie einander so nahe gekommen sind.
    Wie ein geschocktes Unfallopfer lässt sich Philippa zum Wagen führen. Die Türen stehen immer noch offen.
    »Verbrecher!«, ruft ihnen die Frau in hilfloser Empörung hinterher.
    »Was ist passiert?«, fragt er.
    »Später.«
    Die Hitze im Auto ist erdrückend. Hartmut steckt den Schlüssel ins Zündschloss und tastet seine Taschen ab. Als erim Rückspiegel die blutige Schramme inspizieren will, drängt Philippa ihn zur Eile.
    »Lass uns bitte losfahren.«
    »Der Aufsatz von meiner Brille ist hin.« Hartmut nimmt ihn ab und lässt den Motor an. Ihr Weg führt sie im Bogen um die kleine Pinienschonung herum, wo das Ehepaar sich ungläubig umsieht. Campinggeschirr liegt in einem

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