Fliehkräfte (German Edition)
Lissabon. Übermorgen hole ich sie am Flughafen ab. Du kannst mitkommen oder mit João nach Rapa fahren. Da treffen wir uns, wie jedes Jahr.«
Philippa steht auf, als hielte sie es nicht länger aus unter der gnadenlosen Sonne. Tatsächlich spürt man sie wie ein Gewicht auf den Schultern.
»Ich muss auch noch mal aufs Klo.« Hartmut nimmt die restlichen Sachen vom Tisch und steht auf. Im Toilettenhäuschen riecht es beißend nach Ammoniak. Verblichene Armaturen und Risse in den weißen Kacheln. Obwohl es nicht klug war, Breugmann in seine Pläne einzuweihen und ihn obendrein zu verärgern, kann Hartmut nichts tun gegen das aufkommende Triumphgefühl. Wenn er den Kollegen nicht falsch einschätzt, wird der die Arbeit überfliegen und einmal kurz aufstöhnen,dann Charles Lin zum Rapport bestellen und ihn anschließend in Rekordzeit durchs Verfahren drücken. Vielleicht sogar mit Summa cum laude, um Hartmut zu zeigen, wie man es macht, wenn man über die entsprechenden Mittel verfügt. Dann käme immerhin einer gut aus der Sache heraus. Charles Lin ist zu autistisch, um zu argwöhnen, dass etwas anderes als seine überlegene geistige Stufe ihn so weit gebracht hat. Breitbeinig stellt sich Hartmut vor das Pissoir und versucht, flach zu atmen. Sein Gesicht glüht, wahrscheinlich hat er sich schon einen Sonnenbrand geholt. Die Kiste mit den Filmen fällt ihm wieder ein. Als Maria gelangweilten Diplomatengattinnen Portugiesisch beigebracht hat, wurden ihr die unmöglichsten Geschenke gemacht. Warum nicht portugiesische Telenovelas? Durch ein winziges Fenster hört er den Verkehr auf der Autobahn, spärlich, wie meistens im August. In zwei Tagen werden sie einander wiedersehen.
Hartmut wäscht sich die Hände und sieht in den Spiegel. Dieses schwarz-weiße Gekräusel entspricht ihm eher als die propere Erscheinung früher. Noch einmal dreht er das Wasser auf, dann hört er von draußen Philippas zornbebende Stimme: »Kümmert euch gefälligst um euern eigenen Scheiß!«
Vom anschließenden Wortwechsel versteht Hartmut nichts, weil er augenblicklich aus der Tür stürzt. Unter den Pinien stehen drei Figuren in einem bizarren Dreieck: Die Frau hält sich mit beiden Armen eine Tupperschüssel vor die Brust, als hätte ihr die jemand rauben wollen. Ihr Mann trägt ein offenes, kurzärmeliges Hemd über dem weißen Unterhemd und wirkt jünger, als Hartmut auf den ersten Blick geglaubt hat. Ein drahtiger Typ um die fünfzig. Philippa steht zwei Meter entfernt und mit erhobenen Händen, als wollte sie sich entweder die Haare raufen oder dem Kerl an die Gurgel springen. Zwischen ihnen auf dem Campingtisch stehen Plastikflaschen mit Saft und Wasser, liegt benutztes Geschirr und Besteck. Die Zeitung muss vom Tisch gefallen sein, als der Kerl aufgesprungen ist.
»Was ist hier los?«, fragt Hartmut mit einer für den Anlass zu ruhigen Stimme.
»Was los ist? Sie sollten ihr Flittchen besser an die Leine nehmen«, bellt der Typ zurück. Seine Lesebrille hängt an einer Kette um den kurzen Hals. »Uns hier einfach anzubrüllen.«
Hartmut nickt. Das Herz klopft ihm bis in die Kehle, und gleichzeitig durchströmt ihn eine andere, namenlose und beinahe angenehme Empfindung. Der Kerl hat ›Flittchen‹ gesagt. Zu Philippa.
»Sie vergreifen sich im Ton«, sagt er. Philippa neben ihm beißt sich schweigend auf die Unterlippe.
»Ich vergreife mich im Ton? Ich vergreif mich gleich noch ganz anders.« Der Mann hält die Arme, als stünde eine beladene Schubkarre vor ihm. Hat sein ganzes Leben lang gearbeitet, um sich diesen Kasten zu kaufen und mit seiner angetrauten Küchenhilfe durch Europa zu touren. Hartmut steht in der Sonne, es müssen über fünfzig Grad sein. Der Typ bleibt vorerst im Schatten.
»Alles okay?« Hartmut legt Philippa eine Hand auf die Schulter. Ihre schmale knochige Mädchenschulter. Tränen laufen ihr übers Gesicht, aber sie sagt nichts.
Zum ersten Mal schaut er dem Mann direkt in die Augen. Nicht die grobschlächtige Visage, die er erwartet hat, auch kein norddeutscher Zungenschlag, das irritiert ihn kurz, obwohl es keine Rolle spielt.
»Sie werden sich bei meiner Tochter entschuldigen«, sagt er.
»Ach ja?« Ein selbstsicheres Kopfschütteln. »Sie sind zu bedauern, wenn das Ihre Tochter ist. Oder vielleicht ist es ja Ihre eigene Schuld. Und jetzt ...« Er macht einen drohenden Schritt auf Philippa zu, aber Hartmut kommt ihm zuvor. Sonnenlicht fällt durch die Pinien und spiegelt sich im Besteck auf dem
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