Fliehkräfte (German Edition)
nicht nur in Bezug auf institutionelle Involviertheit wiegt Ihr Fall ungleich schwerer. Sie haben von einem Doktoranden gesprochen, aber deren dürfte es mehrere geben, nicht wahr. Als Beamter müssten Sie Ihre Beurlaubung außerdem zwingend begründen können. Das Ende der Philosophie auszurufen, wird nicht reichen. Ohnehin erscheint mir das voreilig und, mit Verlaub, auch etwas anmaßend. Und schließlich, Herr Hainbach, Sie sind eine Kraft, auf die unser Institut nicht verzichten kann.«
Sie sind einer meiner besten Männer, Hainbach, also kneifen Sie gefälligst die Arschbacken zusammen!
»Ich trage auch Verantwortung außerhalb des Instituts«, erwidert Hartmut lapidar. »Ohne in die Einzelheiten zu gehen, es ist in erster Linie eine private Entscheidung.«
Im Eingang des Toilettenhäuschens taucht Philippa auf.
»Verstehe. Trotzdem.«
»Ich werde Frau Hedwig bitten, Ihnen ein Exemplar der Arbeit zukommen zu lassen.«
»Ein Exemplar der ... Die Arbeit ist fertig?«
»Sie ist fertig und annähernd unverständlich. Sie sind der Einzige am Institut, der es sich leisten kann, so was einem Promotionsausschuss vorzulegen. Der Mann hat sechs Jahre lang hart gearbeitet, und wahrscheinlich ist er in seiner eigenen Sprache fähig, lesbare Texte zu produzieren. Bestimmt sogar.«
»Habe ich Grund, mich erpresst zu fühlen?«
»Womit? Ich sitze auf einer portugiesischen Autobahnraststätte und verfüge über keinerlei Druckmittel.« Philippa kommtauf ihn zu. Zögerlich, weil sie glaubt, er spreche mit Maria. »Ich bitte Sie einzig und allein um seinetwillen. Herr Lin hat Frau und Kind zurückgelassen, um in Bonn zu promovieren. Außerdem, wer weiß, der Mann ist Chinese. Vielleicht wird er eines Tages Vizegouverneur von Nordrhein-Westfalen und zeigt sich bei Ihnen erkenntlich.«
»Ich schätze Sie, Herr Hainbach, und hätte mir in manchen Dingen eine engere Zusammenarbeit vorstellen können. Ihren Humor habe ich nie verstanden. Bisweilen bekommt man den Eindruck, Sie stoßen andere nicht ungern vor den Kopf.«
»Das höre ich in letzter Zeit häufig.«
»Wie auch immer. Den Gefallen werde ich Ihnen tun, und den Regelverstoß nicht gegen Sie verwenden – vorbehaltlich einer kritischen Lektüre der Arbeit, versteht sich. Über Ihren Ausstieg allerdings ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Es tut mir leid, aber das riecht nach Fahnenflucht. Vielleicht geht unser Fach tatsächlich den Weg von Alchemie und Mantik. Daraus folgt für uns nichts, das zur Entschuldigung taugt. Wir gehen dann eben mit.« Breugmanns stolze Retourkutsche für die erlittene Überrumpelung. Der sitzt jetzt in seinem Büro zwischen dreitausend Büchern und weiß nicht, ob er sich verarscht vorkommen soll. Gut so. Bernhard wird lachen, wenn er die Geschichte hört.
»Vielen Dank«, sagt Hartmut. »Die Arbeit geht Ihnen umgehend zu. Oh, und nachträglich herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Vierundsechzig. Wie sagt Seneca an einer Stelle: Wir haben keine knappe Zeitspanne, wohl aber viel davon vergeudet. In diesem Sinne.«
»Angenehmen Urlaub«, erwidert Breugmann säuerlich, bevor er auflegt.
Philippa hat ihm gegenüber Platz genommen. Die Sonne scheint so hell, dass sie einander anblinzeln wie auf einem Schneefeld. Ob sie tatsächlich geweint hat, kann er nicht erkennen. Jedenfalls hat sie sich das Gesicht gewaschen. Alles würde er dafür geben, sie wie früher in den Arm nehmen zu können.Stattdessen wischt er das Telefon an seinem Hosenbein ab, bevor er es zusammenklappt.
»Wer war das?«, fragt sie.
»Breugmann, mein geschätzter Bonner Kollege. Er mag’s nicht, auf seinem eigenen Feld geschlagen zu werden.«
»Hat er dich angerufen?«
»Ich ihn.«
»Um über eine Doktorarbeit zu sprechen?«
Unter den Pinien wird Geschirr zusammengeräumt. Hartmut erkennt die Handbewegung, mit der die Frau den Deckel einer Tupperschüssel zudrückt und gleichzeitig den Rand anhebt, um Luft entweichen zu lassen. Philippa mustert ihn still.
»Egal, was deine Mutter denkt«, sagt er »ich werde es tun.«
»Ohne es mit ihr zu besprechen?«
»Ja.« Er nimmt die Doktorarbeit, rollt sie zusammen, so gut das bei fünfhundert Seiten geht, und zwängt sie durch die Öffnung des nächsten Mülleimers. Sie landet mit einem hohlen Plopp. »Hättest du mir nicht zugetraut, was?«
»Sie kommt übermorgen, hat sie gerade geschrieben. Aber sie hat nur noch einen Flug nach Porto bekommen. Was machen wir jetzt?«
»Wie gehabt, wir fahren nach
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