Fliehkräfte (German Edition)
João cool, und so verschieden wie die beiden sind, lässt das für Marias Reaktion nichts Gutes erwarten. Nervosität macht sich in ihm breit. Sobald er still sitzt, spürt er den ungerichteten Drang, etwas zu tun.
»Der Typ hat angefangen, oder?«, sagt Philippa, ohne auf seine Worte einzugehen. »Gestern auf dem Rastplatz.«
»Er hat angefangen, und wir haben es ihm nicht leicht gemacht, wieder aufzuhören. Ich jedenfalls nicht.«
»Ich auch nicht.« Mit einem Seufzer legt sie sich auf das Sofa und stützt den Kopf in die linke Hand. »Ich hab die ganze Nacht drüber nachgedacht. Manchmal werde ich wütend innerhalb von zwei Sekunden. Seit ich Gabriela kenne, ist es besser geworden, aber ...«
»Das hast du von mir.«
»Es sitzt hier.« Mit zwei Fingern zeigt sie auf die Höhe ihres Zwerchfells. »Von dir hab ich es bestimmt nicht. Du hast immer gesagt, man kann in Ruhe über alles reden. Notfalls durch geschlossene Türen.«
Sein Blick bleibt an dem kleinen Körbchen mit Gummiknochen und Bällen hängen. Den dazugehörigen Hund hat Fernanda mitgenommen, als sie für drei Tage zu ihrem Vater gefahren ist. Ein nervöser Kläffer mit Rattenzähnen, der jedes Mal Amok läuft, wenn das Telefon klingelt. Durch die geschlossene Tür mit seiner Tochter zu sprechen war während ihrer Pubertät eine vielgeübte Praxis.
»Hast du noch Erinnerungen an deine Arnauer Großeltern?«, fragt er.
»Natürlich. Wieso?«
»Was für Erinnerungen?«
»Diese und jene. Wie es unten in der Werkstatt gerochen hat. Ich weiß noch, wie du gesagt hast: Dein Opa kann eher was mit Enkelsöhnen anfangen, der will jemanden zum Heimwerken. Was ich gerne gemacht hätte, aber das hat wohl nicht in sein Weltbild gepasst. An die Arnauer Oma denke ich häufiger. An den süßen Tee. Sie war überhaupt süß.« Philippa lächelt über ein Bild, das offenbar vor ihrem inneren Auge vorbeizieht. Schweiß oder ein Deostift haben eine glänzende Spur in ihrer Achselhöhle hinterlassen. Schon oft hat er sich vorgestellt, ihr davon zu erzählen; hat sich gefragt, wie es ihr Bild von ihm verändern würde. Will man als Tochter so etwas wissen?
»Mein Vater hat nie gebrüllt«, sagt er, »oder auch nur dieStimme erhoben. Wenn es so weit war, hat er gesagt, Strafe muss sein. Das war alles.« Hartmut zuckt mit den Schultern, als wären seine Worte ohne Belang. Eine Weile ist lediglich Joãos Singen aus dem Bad zu hören. Das Duschwasser rauscht schon nicht mehr, und auf dem Bildschirm prangt noch immer das Stillleben zweier weiß gekleideter Kämpfer. Es ist ihm nicht unangenehm, darüber zu reden, es macht ihn bloß traurig.
»Strafe für was?«, fragt sie.
»Er hat schon mit dreizehn oder vierzehn Jahren seinen Vater verloren. Menschen sind Sünder, das hat er früh gelernt, und deshalb müssen sie gezüchtigt werden. Zu ihrem eigenen Besten, damit sie nicht abfallen vom rechten Weg. Das gilt insbesondere für heranwachsende Jungs und den verdorbenen Inhalt ihrer Köpfe.« Ohne es zu merken, hat sich Hartmut im weichen Sofa zurücksinken lassen, das Kinn auf der Brust. Philippas Blick richtet sich auf die CDs und DVDs in den Regalen. Bevor er Halbwaise wurde, hatte sein Vater gewiss auch ordentlich eingesteckt. Gesprochen wurde darüber nicht, aber es kann nicht anders gewesen sein. »So waren die Zeiten«, sagt er.
»Okay.« Philippa klingt ratlos.
»Deine Mutter glaubt, dass es viel erklärt. Sie ist ja auch überzeugt, dass ihre seltsamen Schuldgefühle mit dem Bruder zu tun haben, der vor ihrer Geburt gestorben ist. Klingt abwegig, könnte wahr sein – wie will man das im Nachhinein beurteilen? Wir alle möchten wissen, wer und wie wir sind. Trotzdem empfinden wir die meisten Erklärungen als anmaßend, jedenfalls wenn sie von anderen kommen. Wenn dir zum Beispiel jemand sagt, dass du dich zu Frauen hingezogen fühlst, weil ...«
»Ich fühle mich nicht zu Frauen hingezogen, ich bin lesbisch.«
»Das meinte ich.«
»Aber du sprichst es nicht aus. Wahrscheinlich wirst du irgendwann zu Ruth sagen, dass ich eigenwillig sei oder unangepasst oder schwer zu durchschauen.«
»Bist du auch. Früher nicht, jetzt schon. Obwohl, eigenwillig warst du immer.«
»Du wirst es sagen, um nicht das Wort ›lesbisch‹ zu gebrauchen.«
»Mein Punkt war, jede Erklärung würde dich stören. Egal, ob jemand vermutet, dass du als Kind ein zu enges Verhältnis zu deiner Mutter oder zu deinem Vater gehabt oder zu viele Filme mit Jodie Foster gesehen hast. Du
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