Fliehkräfte (German Edition)
Erlebnis war, mit der Tram zu fahren, haben sie das oft zu zweit gemacht, während Maria Besorgungen erledigte oder alte Freunde besuchte. Jetzt kommen die vorbeizuckelnden Waggons Hartmut voller vor, als er sie je gesehen hat. Einzelne Hände und Kameras ragen heraus, drinnen sitzen und stehen die Fahrgäste dicht an dicht. Mit der U-Bahn ist er zum Rossio gefahren, hat sich in der Fußgängerzone einen neuen Aufsatz für seine Brille gekauft und anschließend den bekannten Weg eingeschlagen. Rechts unter ihm glänzt der Tejo weit und blau wie das Meer. Je höher er steigt, desto kühler weht der Wind, obwohl die Sonne brennt und sich am Himmel keine Wolke zeigt. Er läuft an vollen Cafés und schummrigen Tascas vorbei. Vor dem gelben Haus in der Rua das Pedras Negras bleibt er kurz stehen und schickt einen Blick die Fassade hinauf. Wie immer sind die hohen Fensterläden geschlossen und lassen ihn träumen, dass die Wohnung im dritten Stock leer stehe und auf seinen Einzug warte.
Im Lauf der Jahre hat er sich angewöhnt, auf Kleinigkeiten zu achten, die vielen rechteckigen Plaketten, die ein Wohnhaus als Besitz der Stadt ausweisen, oder den langsamen Fortschritt der Ausgrabungen am Teatro Romano. Von der Terrasse des gegenüberliegenden Museums aus hat er freien Blick auf den schneller werdenden Takt, in dem die Fähren nach Barreiro ablegen, und die finsteren Mauern von Aljube, wo unter Salazar die Oppositionellen einsaßen. Schweiß läuft ihm übers Gesicht. Die nächste gelbe Tram kämpft sich die Steigung hinauf, und Hartmut folgt ihr. Von Millionen Fußsohlen poliert, glänzen die gepflasterten Bürgersteige wie Bronze. Hinter der nächsten Biegung taucht sein Ziel auf.
Auf dem kleinen Platz vor der Maurenmauer stehen jedes Jahr mehr Tische. Aus einem grünen Kiosk werden Snacks undGetränke verkauft. Hartmut holt sich ein großes Bier und balanciert den vollen Plastikbecher zu einem freien Stuhl. Bei jedem Besuch in der Stadt kommt er mindestens ein Mal hierher. Die Mauer selbst verläuft in seinem Rücken, eine dunkle Steinwand aus der Zeit, als Westgoten und Mauren um das Gebiet kämpften. Auf Portugiesisch heißt sie Cerca Moura. Jetzt bauen dort fünf schwarze Musiker ihre Instrumente auf.
Er stellt sein Getränk ab und sitzt wie auf einer Terrasse über der Stadt. Auf dem nächsten Hügel leuchtet die weiße Fassade von São Vicente, zum Fluss hinab tun es die roten Dächer von Alfama. Hartmut legt die Füße auf das gusseiserne Geländer und beobachtet eine auf dem Nachbartisch herumhüpfende Taube. Servietten und leere Becher liegen auf dem Boden, ringsum wird fotografiert und geflirtet, geraucht und geschwiegen, Leute trinken Kaffee oder blättern in ihren Reiseführern. Hier hat er einmal gesessen und wurde von einer jungen Frau gebeten, ein Foto zu machen. Sie war ohne Begleitung und wollte allein fotografiert werden. Dann noch mal. Und noch einmal aus der Nähe. Er war Anfang fünfzig und später mit Maria im Bairro Alto verabredet. Lächelte hilflos und tat wie geheißen, bis sie sagte ›Don’t you ever get enough‹, ihm den Apparat aus der Hand nahm und verschwand. Vielleicht die schönste Frau, die er je gesehen hat.
Unten am Fluss spielen Möwen in der unsichtbaren Strömung der Luft. Vor dem Verlassen der Wohnung wollte er Maria anrufen und fragen, ob sie die morgige Nacht lieber in Porto verbringen oder sofort weiterfahren will nach Rapa, aber er konnte sich nicht überwinden. Je länger das Bild dieser Kiste im Keller in ihm arbeitet, desto beschämter fühlt er sich. So lange nicht gewusst zu haben, wie gelangweilt seine Frau war, während er das Geld verdient hat, um ihre Langeweile zu finanzieren. Am meisten schmerzt ihn, womit Maria sich für den Wunsch bestraft hat, der Leere zu entkommen. Mit Schund! Die letzten zwei Monate ihrer Schwangerschaft hatte sie damals liegend verbringen müssen und neben sich kleine Bücherstapelaufgebaut, Lessing, Peter Weiss, Heiner Müller. Dieselbe Maria am helllichten Nachmittag vor einer Folge von Desperate Housewives ist ein Bild, das er in seinem Kopf nicht dulden will. Gleichzeitig fühlt er sich hintergangen. Von ihr. Diese Sache mit den Lesezeichen ...
Musik setzt ein, karibisch und schwungvoll. Die Umstehenden beginnen, die Hüften zu bewegen, und Hartmut denkt daran, wie er früher manchmal ein unsichtbares Saxophon gespielt hat, mit beiden Händen in der Luft. Der einzige Mensch auf der Welt, der die kreischenden Töne seiner
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