Fliehkräfte (German Edition)
Virtuosität vernahm. Jetzt wippt er mit dem Fuß. Wind bringt die langen Haare der Frauen durcheinander, weht ihr Parfüm über den Platz und nimmt das Lachen mit. Hartmut trinkt einen Schluck Bier und zieht das Telefon aus der Tasche. Vorne am Ende der Mauer verkaufen illegale Einwanderer Sonnenbrillen, T-Shirts und billigen Schmuck. Ein junger Vater nimmt sein Kind auf die Schultern, damit es die Band sehen kann.
Wie meistens, wenn er in Bergenstadt anruft, klingelt es nur wenige Male, bevor seine Schwester abhebt.
»Brunner.«
»Ich bin’s. Hallo.«
»Du bist’s«, sagt Ruth erfreut. »Ich hab dir schon zwei Mal aufs Band gesprochen. Bist du so beschäftigt?« Er weiß nicht warum, aber seine Schwester ruft ihn ausschließlich übers Festnetz an. Normalerweise ein Mal in der Woche, das hat sich in fast dreißig Jahren nicht geändert. Am frühen Sonntagabend. Welcher Tag heute ist, fällt Hartmut nicht ein.
»Ich bin in Lissabon. Spontane Reise.«
»In Lissabon. Alleine?«
»Mit Philippa.« Er weiß nicht, wo er beginnen soll, also erwähnt er zuerst Arturs Herzprobleme. Ruth Stimme ist die größte Konstante in seinem Leben, und in manchen Momenten reicht das aus. Als er fertig ist mit seinem Bericht, erstaunt ihn ihre Erwiderung: »Irgendwie klingt es, als ob es diesmal ernst wäre.«
Arturs Herzbeschwerden sind seit Jahren ein Thema, und er dachte, er hätte darüber gesprochen wie immer.
»Kann sein. In seinem Alter, nach zwei Infarkten und mit Bypass muss man mit allem rechnen.«
»Und deine Frau?«
»Kommt morgen nach. Direkt aus Kopenhagen.«
Der alte Mann ist krank, Schwiegersohn und Enkelin eilen herbei, und die Tochter besteigt das nächste Flugzeug. Es klingt nach familiärem Zusammenhalt. Eine Pause entsteht, und Hartmut beobachtet den Sänger der Band, der seinen Platz verlassen hat und mit einem Stapel CDs von Tisch zu Tisch hastet. Mit einem Hut auf dem Kopf und hellen Augen, die er genauso sprunghaft bewegt wie seinen Körper. Irgendwie schafft er es, gleichzeitig mit den Frauen zu flirten und ihren Begleitern eine CD anzudrehen.
»Jetzt weiß ich nicht, was ich mit meiner erfreulichen Neuigkeit anfangen soll«, sagt Ruth bekümmert.
»Einfach raus damit.« Fasziniert sieht Hartmut dem Sänger zu. Wenn Leute etwas tun, was zwar nicht außergewöhnlich ist, was man selbst aber nie könnte, weil eine Art Naturgesetz der eigenen Person dem entgegensteht. Ruths erfreuliche Neuigkeit erwartet er seit einem Jahr. Florian hat schon bei der Hochzeit gesagt, dass sie nur warten wollen, bis seine Frau ihre Promotion abgeschlossen hat. In ihrer Arbeit analysiert sie zwei Texte aus dem Qumran-Korpus, Florian erforscht als Astrophysiker eine bestimmte Strahlung, die Lichtjahre entfernt hinter der Sonne auftritt – die Distanz zwischen ihren Arbeitsgebieten bereitet den beiden offenbar keine Probleme.
»Ich werde Oma«, sagt Ruth.
»Das ist toll, herzlichen Glückwunsch!«
»Ich sollte es dir eigentlich noch nicht sagen, es ist erst die zehnte Woche. Aber dann hab ich Florian in den Ohren gelegen, bis er’s erlaubt hat.«
»Ich werd’s für mich behalten.«
»Musst du nicht. Es ist Familie.«
»Deshalb hast du mir auf Band gesprochen?«
»Ja. Deshalb, und um zu hören, wie’s dir geht. Ob du dich entschieden hast. Als du hier warst, schien dich die Sache ziemlich zu belasten.«
Der Sänger treibt seine Späße mit den Zuhörern, hat ein langes hölzernes Instrument hervorgeholt, mit dem er Männern auf die Schulter klopft und dabei wild die Augen rollt. Alle feuern ihn an.
»Ich weiß noch genau«, sagt Hartmut, »wie unsere Mutter mir damals nach Amerika geschrieben hat, als du schwanger warst. Eine segensreiche Nachricht, schrieb sie, die Formulierung hab ich nicht vergessen. Du hast an den Rand gekritzelt: Kaum zu glauben, oder? Die kleine dumme Ruth ... Ich hab den Brief gelesen und gedacht, dass es wirklich kaum zu glauben ist. Ich versuche, in Amerika erwachsen zu werden, und du springst eine Generation weiter, als ob es nichts wäre.« Hartmut dreht sich zur Seite, sieht in der Ferne ein weißes Segelboot über den Tejo gleiten und hört Ruths Lachen zu etwas anderem werden. Vielleicht ist es die Weite des Blicks, die ihn empfinden lässt, wie lange das zurückliegt. Er spürt ein Frösteln auf den Armen.
»Weinst du?«, fragt er.
»Nein. Es ist ...« Sie muss die Nase hochziehen, bevor sie weitersprechen kann. »Schlimm! Als ich letzte Woche mit Felix telefoniert habe, war
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