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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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es genau das Gleiche, obwohl er es natürlich vor mir gewusst und mich ausgelacht hat. Schon wieder okay. Ich alte Oma.« Sie lacht erneut.
    »Aber du freust dich.«
    »Natürlich.«
    »Gut. Das ist gut.«
    Keine zwei Wochen ist es her, seit sie zusammen auf dem Arnauer Friedhof waren, wo Ruth die Pflanzen auf dem Grab ausgewechselt und gesagt hat: Du wolltest immer Professor werden. Er hat daneben gestanden, den Grabstein betrachtet und zum ersten Mal gedacht, dass ihm der Spruch darauf dochgefällt. Die letzte Zeile jedenfalls. Denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon. Es war ein unscheinbar schöner Moment. Hinterher sind sie beim Haus vorbeigefahren, das sie vor drei Jahren verkauft haben, nach dem Tod der Mutter. Die letzten Jahre hatte sie bei Ruth und Heiner am Rehsteig verbracht, so still und klaglos wie ihr gesamtes Leben.
    »Irgendwie ist es jetzt wieder so«, sagt Hartmut.
    »Was?«
    »Ist dir gar nicht mulmig bei dem Gedanken, Großmutter zu werden?«
    »Ich werde Oma«, sagt sie bestimmt. Großmutter ist das Wort für die schwarze Witwe hinter dem Küchenfenster, den Schatten auf ihrer und seiner Kindheit.
    »Und zwar eine sehr gute, da bin ich sicher. Ich meinte nur.«
    »Ich weiß, was du meinst, aber ich hab kein Problem damit, älter zu werden. Freu dich einfach für mich.«
    Als sie im Auto saßen und die schiefergraue Fassade betrachteten, hat er sich einen Moment lang eingebildet, den dunklen Schemen hinter der Küchengardine zu sehen. Den verbissen schweigenden Missmut eines verpassten Lebens. Sie muss damals so alt gewesen sein wie er jetzt, bloß verwitwet seit fünfunddreißig Jahren. Kinder waren ihr ein Gräuel, das wussten alle im Dorf, und die Kinder rächten sich, indem sie Spottverse rufend am Haus vorbeiliefen. Dann verschwand Ruth in ihrem Zimmer und drückte sich das Kopfkissen auf die Ohren. Die kleine dumme Ruth.
    »Ich freu mich für dich«, sagt er. »Wirklich.«
    »Jedenfalls bemühst du dich.«
    Die größten Veränderungen hatten die neuen Bewohner im Gemüsegarten neben dem Hof vorgenommen. Ein zugezogener Dachdeckermeister mit Frau und zwei kleinen Kindern. Wo früher die Beete gewesen waren, standen eine Schaukel und ein hölzernes Klettergerüst. Die Johannisbeersträucher gab es noch, und sofort legte sich das seit Jahren nicht mehr geschmeckte Aroma auf Hartmuts Zunge. Das Gefühl eines dünnen Fellbelags am Gaumen. Säuerlich und süß zugleich. Ruth saß neben ihm und wollte, dass er zuerst was sagte.
    »Kommst du oft hierher?«, fragte er.
    »Nein.« Zu ihren Füßen stand ein kleiner Eimer mit Gartengeräten, aber die grünen Plastikhandschuhe hielt sie zwischen den Fingern.
    »Nur mit mir?«
    »Mit wem sonst?«
    Es war ein früher Samstagabend, die Zeit der Sportschau . Gewaschen und poliert standen die Autos in den Hofeinfahrten. Als Hartmut sich umsah, fielen ihm die alten Hausnamen der Nachbarschaft ein, Schlessersch, Junkmanns, Linneborns, über Generationen hinweg unveränderte Genitive, die anzeigten, um wessen Haus es ging. Familiennamen benutzten damals nur die Lehrer und der Pfarrer.
    »Werden die eigentlich immer noch mit unserem Hausnamen angesprochen?« Er zeigte mit dem Kinn auf das Grundstück. »Ich meine als Zugezogene.« Seine Hände lagen auf dem Lenkrad. Hundertfünfundzwanzigtausend Euro bekam man in Arnau für ein zweistöckiges Haus mit Scheune und Garten. Von seinem Anteil hatte er das Auto gekauft und den Rest auf eine Weise angelegt, an deren Klugheit jüngste Zeitungsmeldungen ihn zweifeln ließen.
    »Keine Ahnung«, sagte Ruth.
    Theofel lautete der Name, vom Arnauer Zungenschlag zu Dofels verschliffen und in dieser Form eingegangen in die Spottverse der Kinder. Hartmut blickte die schmale Straße hinauf, wo im nächsten Hof Schlessersch Alfred seine Schreinerei betrieben hatte. Von dort war der Duft von Holz, Leim und Lack in sein Zimmer geweht. Seit Maria nicht mehr in Bonn wohnte, glaubte er manchmal, das zu riechen, wenn er spätabends am Schreibtisch saß.
    »Darf ich noch mal anfangen davon?« Ruths Stimme klang, als hätte sie über die Frage lange nachgedacht.
    »Davon?« Am liebsten hätte er den Schlüssel umgedreht undwäre losgefahren, aber auf ihre Weise war seine Schwester so hartnäckig wie er. Andernfalls hätten sie sich längst auf den Nachhauseweg gemacht statt in dieser Straße zu stehen, die ausgerechnet Obere Hainbachstraße hieß. Das entsprechende Gewässer war vor langer Zeit kanalisiert worden und floss

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