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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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und blickt skeptisch.
    »Nicht Ihr Fall?«, fragt er.
    »Bisschen sehr trocken, oder?«
    »Das tut mir leid. Möchten Sie gleich einen anderen?« Er will den Arm heben, aber sie winkt lachend ab.
    »So schlecht ist er auch nicht. Außerdem soll man sich ja steigern. Haben wir nicht gerade noch von was anderem gesprochen?«
    »Die Romanlektüre. Beziehungsweise der Versuch.«
    »Heute habe ich mich gefragt, ob es das ist, was Workaholics empfinden, wenn sie ein Wochenende nichts zu tun haben: die Unfähigkeit, Freizeit zu genießen? Passt eigentlich nicht zu mir.«
    »Vielleicht ist es nur ein Übergangsphänomen«, sagt er. »Mir geht das jeden Sommer so. Nach ein paar Tagen ist die Umstellung vollzogen, oft schon am zweiten Tag.«
    »Ich erinnere mich an das schöne Foto in Ihrem Büro. Den Namen des Ortes hab ich vergessen.«
    »Serra da Estrela heißt der Landstrich, Rapa das Dorf. Nichts als karge Berge und saurer Wein, aber ich kann mich nirgendwo besser erholen.«
    »Dieses Jahr fahren Sie nicht?«
    »Dieses Jahr ... Sagen wir: Der Verlauf meiner Ferien, obwohl sie schon begonnen haben, ist in diesem Jahr ungewöhnlich offen. Aus verschiedenen Gründen.«
    »Okay. Vielleicht spannender als mein Versuch, auf dem Balkon zu lesen. Oder hätte ich mir nicht gleich Tolstoi vornehmen sollen?«
    »Vielleicht«, sagt Hartmut und greift nach der Karte. »Bestellen wir was?«
    Vor ihrem Eintreffen hat er das Angebot studiert, jetzt nutzt er den Wissensvorsprung, um seiner Begleiterin die Auswahl zu erleichtern. Während sie Vor- und Hauptspeisen kombinieren und nach dem passenden Wein suchen, schweifen Hartmuts Gedanken ab nach Berlin. Dass Maria heute Abend mit Peter Karow verabredet ist, hat er am Nachmittag aus einer kurzen E-Mail erfahren. Den Anlass des Treffens nicht. Seit seine Frau wieder in Berlin wohnt, lädt Peter sie häufig in jenes italienische Restaurant am Planufer ein. Wird er Maria vom jüngsten Treffen im Verlag erzählen? Zwar hat Peter am Freitag versprochen, ihr nichts zu sagen, aber er ist nun mal eine so ehrliche Haut, dass er niemanden täuschen kann. Vorläufig lässt Hartmut das Handy ausgeschaltet. Seine eigene Verabredung mit Frau Müller-Graf hat er beim gestrigen Telefonat nicht erwähnt. Wie auch, ohne zu verraten, worum es ging? Jedes Verschweigen erzwingt ein weiteres. Das ist der Preis für den Freiraum, den man sich damit erkauft.
    Sie bestellen ihr Essen, dann fragt Frau Müller-Graf ganz unverblümt nach dem Grund ihrer Zusammenkunft. »Sehen Sie, ich zeichne meine Telefongespräche nicht auf«, sagt sie, »aber mir ist, als hätten Sie am Samstag eine Sache erwähnt, die Sie gerne mit mir besprechen möchten. Zu der ich gerne Ihre Meinung hören würde, war die Formulierung, und Sie hatten dabei Ihre Dienststimme.«
    »Meine Dienststimme?«, fragt er mit gespieltem Erstaunen. Am Samstag hat er auf Ruths Terrasse gestanden und nicht gewusst, wie viel von seinem Telefonat durch die offene Küchentür zu verstehen war.
    »Ersparen Sie mir die Nachahmung. Ich bin darin nicht gut.«
    »Sie haben recht, mit der Angelegenheit. Vielleicht bringen wir das vor dem Essen hinter uns. Es ist mir eigentlich unangenehm, Sie damit zu belästigen, noch dazu in den Ferien, aber ich brauche Ihren fachlichen Rat.«
    Hartmut trinkt einen Schluck und versucht, sich zu konzentrieren. Vorerst erwähnt er weder den Namen noch den Standortvon Karow & Krieger, sondern spricht unbestimmt von einer Offerte aus der Verlagsbranche. Auch die wahren Gründe für seine Überlegungen legt er nicht offen, sondern belässt es bei beruflicher Auszehrung und der Frustration über die dilettantischen Reformen. An einer Stelle greift er auf Peter Karows Formulierung von der neuen Herausforderung zurück, für die er sich reif fühle. Nach dem Gespräch mit Ruth ist es das zweite Mal, dass er jemandem von den Plänen erzählt und dabei gegen das Gefühl ankämpft, er versuche vor allem, sich selbst zu überzeugen. Diesmal nicht nur von der Ernsthaftigkeit seines Anliegens, sondern auch davon, dass sie beide deswegen hier sind. Frau Müller-Graf scheint seine Geschichte interessant zu finden, das signalisieren die Augen und der erstaunte Tonfall ihrer Nachfrage: »Verstehe ich Sie richtig? Sie denken ernsthaft darüber nach, Ihre Professur aufzugeben?«
    »Ich weiß, wie abwegig das klingt. Im Moment bin ich weit davon entfernt, zu dem Schritt entschlossen zu sein. Aber da es das Angebot nun mal gibt, will ich wenigstens

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