Fliehkräfte (German Edition)
haben.
Reglos sitzt Hartmut inmitten von Feierabendstille und Vogelgezwitscher. Wie von selbst krallen sich seine Hände um das Steuer. Es war ein unscheinbarer Montag Anfang September. Der Sommer wollte gerade in den Herbst kippen, am Venusberg fielen die ersten Blätter, und wo er jetzt im Auto sitzt und die Straße beobachtet, parkte ein Europcar-Transporter mit Marias wenigen Habseligkeiten. Morgens um halb zehn, und natürlich hat er ihr beim Einladen geholfen. Danach standen sie einander auf dem Gehsteig gegenüber, und er erinnert sich an seinen Gedanken, klar wie ein gedruckter Satz: Ich weiß immer noch nicht, warum du gehst. Die gesamte Robert-Koch-Straßeentlang parkten Autos, wie immer während der Besuchszeiten des Klinikums. Birken und schlanke Pappeln wiegten sich in der Morgenbrise.
Marias Gedanken waren nach vorne gerichtet: »Wir sind stark genug. Wir schaffen das.« Ihre Hände suchten nach seinen, und ihr Blick kam ihm aufdringlich zuversichtlich vor. Als wollte sie ihm bedeuten, dass er gerade einen gewichtigen Grund übersah, sich von Herzen zu freuen. Sie trug Jeans, ein trikotartiges Oberteil und dazu Turnschuhe. Maria Antonia Pereira aus Lissabon. Es war ihm neu, dass sie Turnschuhe besaß. Immer schon hatte sie jünger ausgesehen, als sie war, aber jetzt wirkte sie noch jugendlicher als sonst, hatte die halblangen Haaren zu einem Zopf gebunden, aus dem sich kleine Strähnen lösten und im Wind spielten. Sie sah genau so aus wie die Frau, von der er keine fünfhundert Kilometer getrennt sein wollte.
Wir sind stark genug, um deine Flausen auszuhalten, dachte er. Jedenfalls glaubst du das. Philippa war früh zu einer Freundin gegangen; ein lakonisches ›Bis dann‹ der einzige Gruß an ihre heimflüchtige Mutter. In Kürze würde sie selbst ausziehen.
In den Tagen zuvor hatte Maria Besteck, Teller und Gläser eingepackt, sorgfältig darauf achtend, keine sichtbaren Lücken in die Bestände zu reißen. Im Keller fand sich ein ausgedienter Lattenrost, der ihr gut genug schien für ihre bescheidenen Ansprüche – sie wollte der Familie ja nicht zur Last fallen, sondern sie bloß verlassen. Klamotten kamen in den Koffer, ein paar Bücher in die Kiste. Musste sie sich bemühen, in seiner Gegenwart nicht vor sich hin zu summen?
»Es wird anders sein und manchmal schwierig«, sagte sie. »Aber oft auch schön. Wir werden uns seltener sehen, aber dann mit Zeit füreinander und Lust aufeinander. Es war schön, als du in Dortmund gewohnt hast und ich in Berlin. Oder nicht?«
»Als du Ende zwanzig warst und ich Ende dreißig.«
»Und?«
»Als es neu war und ein Provisorium. Als wir noch gar nicht wussten, ob wir zusammenbleiben würden.«
»Hartmut, soll ich jetzt Sätze sagen wie: Das ganze Leben ist ein Provisorium? Wir schaffen das, glaub mir. Es wird uns sogar guttun.« Sie küsste ihn lange. Beinahe musste er sich gewaltsam aus der Umarmung befreien.
»Hast du alles?«
»Außer deiner Zustimmung, ja.«
»Da du diesen Zettel auf die Anrichte gelegt hast, weiß ich ja, wohin ich sie schicken kann.«
»Wirst du’s tun?« Ohne Groll sah sie ihn an. Bittend, wartend. In sich spürte er den festen Willen, den Abschied nicht bitter zu machen – das und Bitterkeit. Er hatte Philippas bevorstehenden Auszug zum Anlass nehmen wollen, seinen eigenen Alltag umzugestalten: weniger arbeiten, sich die Wochenenden freihalten, mit Maria kleinere Ausflüge unternehmen. In fünfzehn Bonner Jahren sind sie nie zusammen in der Eifel gewesen. Oder in Amsterdam. Er wollte häufiger ins Kino gehen und mehr Romane lesen. Außerdem hatte er daran gedacht, Maria das seit langem bestehende Angebot von Hans-Peter schmackhaft zu machen, eine einjährige Gastdozentur in Berkeley. Er würde ein Seminar geben und ein bisschen schreiben müssen, sie könnte ihr Englisch aufpolieren, und es bliebe genug Zeit übrig, um zusammen die Weingüter des Napa Valley zu erkunden. Ist das nicht besser, hatte er fragen wollen, als sich in Bonn komisch zu fühlen, weil oben niemand zu laut Musik hört?
»Ich bin ein verwirrter alter Mann und weiß nicht, was ich tun werde«, lauteten die Worte, mit denen er den Abschied schließlich ruinierte.
»Vielleicht kannst du mit dem Altwerden noch ein bisschen auf mich warten.« Sie drehte den Autoschlüssel in der Hand und kämpfte mit sich, gab ihm schließlich einen letzten Kuss auf die Wange und ging zum Wagen.
Er sah ihr nach und wollte das nicht. Nein, wollte er nicht. Nichts
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