Fliehkräfte (German Edition)
davon. Er war nicht stark genug, das würde bald auch seine Frau merken.
Vom Parkplatz der Klinik nähert sich ein Unfallwagen derJohanniter, zügig und mit Blaulicht, aber erst, als er aus dem Blickfeld verschwunden ist, holt sein Martinshorn Hartmut vollends zurück in die Gegenwart. Die Uhr am Armaturenbrett zeigt Viertel nach sieben. Langsam nimmt er die Hände vom Lenkrad. Am Wochenende hat Ruth ihn überrascht mit der Frage: »Hast du Angst, dass sie dich nicht mehr liebt?« Ein gutes Beispiel dafür, wie seine Schwester genau weiß, was an ihm nagt, und ihn trotzdem nicht richtig versteht. Wenn er abends alleine im Wohnzimmer sitzt, ist Angst nur ein Gefühl von vielen. Dann horcht er in sich hinein wie in den Verlauf einer Debatte, an der er nicht teilnehmen möchte, deren Argumente ihn aber betreffen. Gleichzeitig spürt er seine langsame Annäherung an den Punkt, da Argumente ihre Relevanz verlieren und er sich einfach gehen lassen wird. Nicht wie damals vor Florians Hochzeit, aber mit ähnlichen Konsequenzen.
Eine Viertelstunde später als verabredet betritt sie das Restaurant. Die Haare sind offen und etwas rötlicher, als Hartmut sie in Erinnerung hatte. Sie hat sich die Jacke über den Arm geworfen und ihn mit einem Blick an seinem Ecktisch erspäht. Dem auf sie zutretenden Kellner bedeutet sie ›Seh ihn schon‹, grüßt mit den Augen und verstaut ihren Autoschlüssel in der Handtasche, als sie ihm auf hohen Absätzen entgegenkommt. Hartmut erhebt sich von seinem Platz und streckt die Hand aus, noch bevor sie den Tisch erreicht hat.
»Stau auf der Kennedybrücke«, sagt sie, »wie immer.«
»Ich bin auch gerade erst gekommen«, lügt er. »Schön, dass Sie da sind.«
Als sie sich auf dem Stuhl niederlässt, ist ihr Parfüm überall. Ein dezent verführerisches Dekolleté mit Silberkettchen und die Andeutung von Schweiß auf der Stirn. Dahinter die diskrete Dämmerung des Restaurants. Es war ein Tipp aus der Gastronomie-Sektion von bonnjour , die zu Recht das geschmackvolle Interieur hervorhob. Warme Rot- und Brauntöne, auf den Tischen stehen Kerzen, Blumengebinde und langstielige Gläser.
»Ich sehe, Sie haben sich schon für einen Wein entschieden.« Frau Müller-Graf kramt in der Handtasche und scheint noch einmal das Display ihres Handys zu kontrollieren. »Mit der Flasche seinerzeit haben Sie meinen Geschmack getroffen. Einstweilen vertraue ich Ihnen.«
»Der hier dürfte etwas trockener sein.« Hartmut winkt dem Kellner und bittet noch einmal um denselben Rioja. Seine Freude über das Wiedersehen ist größer, als er erwartet hat; wenngleich zwischen ihren Büros nur wenige Treppen und Flure liegen, sind seit der letzten Begegnung sechs Monate vergangen. Da sie sich außerhalb der Uni überhaupt noch nie getroffen haben, glaubt er, ihr eine Erklärung zu schulden.
»Sie haben sich sicher gewundert, dass ich Sie während des Urlaubs kontaktiere«, sagt er, obwohl er lieber nicht sofort mit seinem Anliegen herausplatzen will.
»Ich bin sowieso zu Hause.« Ihr Schulterzucken fügt hinzu: ein bisschen schon, aber was soll’s. »Mein Sohn macht bei einer Ferienspiel-Aktion mit, und ich stelle fest, dass auch Romane lesen zu den Tätigkeiten gehört, die man verlernen kann. Früher hab ich viel gelesen, jetzt sitze ich auf dem Balkon, und mein Kopf will mir einreden, es gebe Dringenderes zu tun.«
»Das kenne ich gut. Meinen letzten Roman ...«
Der Kellner kommt mit der Flasche, und Hartmut fällt auf, dass er ohnehin nicht gewusst hätte, welches Buch es war. Auf der Rückfahrt von Berlin, von einem leeren Rasthof bei Magdeburg aus, hat er mit der Rechtsabteilung telefoniert und sich sagen lassen, dass Frau Müller-Graf noch zwei Wochen im Urlaub sei. Ohne große Hoffnung hat er es am nächsten Tag auf ihrem Handy probiert, aber sie war in Bonn und schien sich durch seinen Anruf nicht gestört zu fühlen. Im Gegenteil. Also hat er sich mit ihr verabredet, statt die Auskunft am Telefon einzuholen, und dabei nicht einmal das Gefühl gehabt, dass Maria sein Verhalten missbilligen würde. Außer Frau Müller-Graf kennt er niemanden, der ihm in dieser Sache behilflich sein könnte.
»Nun denn«, sagt er, als ihr Glas gefüllt ist. »Hoffentlich schmeckt Ihnen der hier auch.«
»Zum Wohl.«
Sie trinken, und Hartmut erinnert sich, dass er die kleinen Fältchen um ihre Augen schon einmal betrachtet und sich gefragt hat, warum sie das Gesicht verschönern. Jetzt allerdings setzt sie das Glas ab
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