Fliehkräfte (German Edition)
wissen, was es hieße, es anzunehmen. Verstehen Sie?«
»Theoretisch ja. Aber von der Uni in einen kleinen Fachverlag?«
»Die Vorstellung hat etwas Schwindelerregendes, aber das macht einen Teil ihres Reizes aus.« Er meint das nicht so doppeldeutig, wie es in diesem Moment klingt.
»Sie meinen, weil es unvernünftig ist, würden Sie’s gerne tun?«
»Erst einmal würde ich gerne wissen, ob und zu welchen Bedingungen es möglich wäre.« Genau genommen versucht er, die Vorstellung in jener prekären Halbdistanz zu halten, in der sie ihre volle Verführungskraft nicht entfalten kann, ohne darum wie ein Hirngespinst auszusehen. Sich locken lassen von etwas, über das man die Kontrolle behält – schwer.
»Vielleicht sollte ich Ihnen an dieser Stelle etwas über mich erzählen«, sagt Frau Müller-Graf und greift nach ihrem Glas. »Meine Ehe ist daran gescheitert, dass mein Mann nicht überdie Frustration hinwegkam, es nicht zum Professor gebracht zu haben. Auch daran jedenfalls. Es hat ihn regelrecht aufgefressen.«
»Das tut mir leid«, sagt er. »Ihr Mann war ...?«
»Ist. Nicht mehr mein Mann, aber immer noch Kunsthistoriker in Köln. Erst war er ein sich selbst ausbeutender Privatdozent, der seine Familie nicht ernähren konnte. Dann kam die Reform des Mittelbaus, und man hat ihm auch noch sein kärgliches Dozentenentgelt gestrichen. Was sowieso eine Verhöhnung war, bloß eben eine, die wir für die Miete brauchten. Seit einigen Jahren unterrichtet er am Lessing-Kolleg, van Gogh für interessierte Laien und Ähnliches. Verstehen Sie mich nicht falsch, das hat mit Ihnen nichts zu tun. Ich erwähne es bloß. Bisher habe ich noch nie davon gehört, dass jemand freiwillig seine Professur aufgibt. In den Geisteswissenschaften!«
»Bernhard Tauschner ist der einzige mir bekannte Fall. Er war bei uns am Institut, bis er vor drei Jahren überraschend den Hut genommen hat.«
»Ist mir nicht zu Ohren gekommen. Zu der Zeit habe ich gerade angefangen.«
»Er war Juniorprofessor, aber zum Zeitpunkt seines Ausstiegs hatte er noch einen Vertrag über mehrere Jahre. Soweit ich weiß, betreibt er jetzt ein Weinlokal in Südfrankreich.«
»Schön für ihn«, sagt sie bündig und mit einem missbilligenden Unterton. »Wie Sie wissen, bin ich für arbeitsrechtliche Fragen nicht zuständig. Deshalb kann ich zu Ihrem Fall nicht viel sagen, schon gar nicht aus dem Stegreif. Wenn Sie wollen, mache ich mich schlau. Ich nehme an, das wollen Sie.«
»Solange ich selbst nicht weiß, ob ich das angehen will, soll es an der Uni niemand erfahren. Deshalb kann ich in der Drei-Drei keine Erkundigungen einziehen.«
»Verstehe. Aber ich könnte das. Als private Weiterbildung.«
»Ich wäre Ihnen sehr dankbar.« Er kann in ihrer Miene lesen, dass sie nicht davon ausgeht, die ganze Wahrheit gehört zu haben. Einen Moment lang blicken sie schweigend auf denTisch. Frau Müller-Graf hat schmale Hände, die er gerne in seine nehmen und ihr versichern würde, dass er nicht nur deswegen angerufen hat. Ein Verlangen, das ebenso viel mit ihren Händen zu tun hat wie mit dem Wunsch, zur Abwechslung mal einfach nur ehrlich zu sein.
»Aus dem Stand kann ich Ihnen sagen, dass der Zeitpunkt ungünstig ist.« Offenbar besitzt auch Frau Müller-Graf eine Dienststimme.
»Ich weiß, ich bin zu alt.«
»Im Gegenteil. Für den vorzeitigen Ruhestand sind Sie zu jung. Oder zu gesund, wie Sie wollen. Ihnen bleibt nur entweder die Kündigung oder die Beurlaubung, aber auch im zweiten Fall würde sich Ihr Ruhegehalt reduzieren. Um wie viel, hängt ab von den Dienstjahren und der Dauer der Beurlaubung. Dafür gibt es einen komplizierten Berechnungsschlüssel. Alles unter der Voraussetzung, dass man den Antrag bewilligt, da müssten natürlich triftige Gründe angeführt werden.«
»Sehen Sie, das ist das Problem. Sobald ich an all die einzelnen Faktoren denke, erscheint das Unternehmen verrückt.«
»Ich werde mich kundig machen und mich dann bei Ihnen melden. Können wir so verbleiben?«
»Vielen Dank. Das Problem ist, dass ich die Entscheidung sehr bald treffen muss.«
»Sie können sich auf mich verlassen. Den ganzen Tag Tolstoi ist sowieso nicht das Richtige für mich.« Sie legt beide Hände flach auf den Tisch. »Jetzt müssen Sie mich einen Moment entschuldigen.«
Er erwidert das Lächeln, mit dem sie nach ihrer Handtasche greift und aufsteht. Sobald sie aus seinem Blickfeld verschwunden ist, zieht Hartmut das Handy aus der Tasche und schaltet
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