Fliehkräfte (German Edition)
einer Kämpferin für mehr Gerechtigkeit in der Welt, und als wäre das nicht beschämend genug, eilt Maria umgehend zum Tatort und erkauft an seiner Stelle Ablass. Oxfam muss nur noch dafür sorgen, dass wenigstens ein paar äthiopische Grundschüler vom Niedergang seiner Ehe profitieren.
Ratlos blickt er auf das Display seines Mobiltelefons. Grüße und Küsse. Reicht nicht, denkt er, als hätte seine Frau gerade die letzte Chance verspielt. Ihre aufrichtige Zuneigung und das beharrliche Festhalten an der Überzeugung, dass die räumliche Trennung ihnen guttun würde, wenn er es zuließe. Als wäre seine Liebe zu ihr eine Form von Verstocktheit. Was, wenn sie sich stattdessen wie eine Kränkung anfühlt? Nach dem gestrigen Telefonat hat er im Wohnzimmer gestanden, an die heutige Verabredung gedacht und genau gespürt, wie leicht sich darin etwas anderes als ein Informationsgespräch sehen ließe. Vielleicht brauchte es nur zwei Gläser Wein. Eins hat er bereits getrunken. Jetzt erkennt er im Durchgang zu den Toiletten eine schemenhafte Bewegung und schaltet das Handy wieder aus. Katharina Müller-Graf macht bei der Theke Halt und spricht mit dem Kellner. Der Anflug von Verstimmung ist aus ihrem Gesicht verschwunden, als sie zum Tisch zurückkehrt. Als hätte sie in der Zwischenzeit einen Entschluss gefasst.
»Wer war eigentlich die Freundin, die Ihnen damals in Amerika den Jazz nahegebracht hat?« Sie nimmt Platz und rückt ihr leeres Weinglas zurecht wie ein Mikrofon. »Wenn es keine zu private Frage ist.«
Einen Moment lang fühlt er sich überrumpelt. In den vergangenen Tagen hat er ein paar Mal an Sandrine denken müssen.
»Hatte ich davon ... Hatte ich erwähnt, dass sie meine Freundin war?« Von der letzten Unterhaltung ist ihm lediglich in Erinnerung, wie er mit einer Weinflasche in der Hand vor ihrem Schreibtisch stand und beinahe gesagt hätte, was ihm durch den Kopf ging: dass ihm mit der Verabschiedung der neuen Studienordnung leider jeder Vorwand genommen worden sei, weiter mit der Rechtsabteilung des Kanzlers zu kommunizieren. Worüber sie tatsächlich gesprochen haben, hat er vergessen.
Frau Müller-Graf schüttelt den Kopf: »Nein. Aber wie sie es erzählt haben.«
»Verstehe. Kompliment.«
Der Kellner kommt mit frischen Gläsern und einem anderen Wein. Die Flasche lässt er nach dem Einschenken zwischen ihren Gläsern stehen, und Frau Müller-Graf zuckt mit den Schultern: »Ich dachte – zu zweit.«
»Wir werden es schaffen.«
Sie probieren den Wein, und anstatt zu fragen, ob er mit ihrer Auswahl zufrieden sei, stellt sie ihr Glas ab und nickt ihm aufmunternd zu: »Sie wollten erzählen.«
»Meine damalige Freundin also«, sagt er. »Aus Paris. Wir haben beide in Minneapolis promoviert, und sie kannte sich in vielen Dingen besser aus als ich. Mit ihr hab ich auch das erste Mal einen anständigen Wein getrunken. Der hier ist übrigens ziemlich gut.« Obwohl es den Altersunterschied zwischen ihnen betont, holt er Eindrücke aus dem Amerika der Siebzigerjahre hervor und kann sich nicht erinnern, wann er zuletzt von damals gesprochen hat. Bürgerrechtsbewegung und Gegen-Kultur, those fucking hillbillies, wie sein damaliger Vermieter die bunten Anwohner der West Bank nannte. Zufrieden nimmt er zur Kenntnis, dass Katharina ihm gerne zuhört. Der Kellner bringt ihr Essen. Es fällt ihm leicht, so von Sandrine zu sprechen, dass eine Frau sie sympathisch und interessant findet. Ihre Streitgespräche mit weißen Südstaatlern. Ein paar Mal hat er sie am Arm ins Auto ziehen müssen, bevor es brenzlig wurde. Er erwähnt seine jugendliche Begeisterung für Mark Twain und die spätere für Faulkner. Schildert den Mississippi als majestätisch und träge. Wo er sich mit dem schneller fließenden Missouri vereinigt, ist es besonders gut zu erkennen. Ermutigt durch ihr Interesse, versucht er sich an Parodien der Leute, die ihn fragten, ob es in Deutschland Kühlschränke gebe und was er vonHitler halte. Katharina Müller-Graf lacht und fächelt sich mit der Hand Luft zu. Das Essen schmeckt köstlich, und Hartmut weiß nicht, ob er lieber reden oder sich den Mund vollstopfen will. Beides scheint derselben Gier zu entspringen, die desto größer wird, je weiter er ihr nachgibt.
»Kennen Sie den Film Thelma & Louise ?«, fragt er kauend.
»Einer meiner Lieblingsfilme.«
»Mit dem gleichen Wagen waren wir unterwegs.« Klingt nach Aufschneiderei, stimmt aber. »Einem 1966er T-Bird. Wollte meine Freundin
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