Fliehkräfte (German Edition)
es ein. Obwohl er mit einer skeptischen Reaktion und dem Hinweis auf bürokratische Hürden gerechnet hat, fühlt er sich für einen Moment vollkommen entmutigt. Der Plan war unrealistisch, und es wird Zeit, dass er das endlich einsieht. Sein Telefon meldet keine Anrufe, nur eine SMS von Maria. Gespannt klicktHartmut auf den kleinen gelben Umschlag, der sich augenblicklich auffaltet und zugunsten des Textes verflüchtigt: Gruß aus Berlin von Peter und mir. Beijinhos. M.
Schlicht und spröde stehen die Worte auf dem blau leuchtenden Display. Lassen nicht viel erkennen, außer dass sie im Lauf des Abendessens an ihn gedacht hat. Sie dort mit einem schwulen Freund, er hier mit einer attraktiven Kollegin. Seit dem Umzug schickt sie gelegentlich kurze Nachrichten, wenn ihr danach ist, und schafft es jedes Mal, noch in unscheinbaren Halbsätzen sie selbst zu sein. Voll von dieser alles durchdringenden Aufrichtigkeit, mit der sie spricht, liebt und lacht. Gestern Abend haben sie zuletzt telefoniert, wenige Minuten nachdem er von seinem Besuch bei Ruth und Heiner zurückgekehrt war. In Jacke und Straßenschuhen stand er im Wohnzimmer, mit einer DVD aus Philippas Kiste in der Hand und der Frage im Kopf, ob er probehalber eine Folge von Sex and the City anschauen soll. Maria erzählte vom Stress, den das bevorstehende Kopenhagener Gastspiel im Ensemble verursacht. Es ist ein Festival, nur zwei Aufführungen eines in Berlin dutzendfach gespielten Stückes, aber dem übellaunigen Falk Merlinger scheint jeder Anlass willkommen, um sich auf Kosten seiner Umgebung zu produzieren. Hartmut hörte zu, horchte in sich hinein und stellte fest, dass es ihm an Empathie mangelte. Als müsste er sich durch eine große Willensanstrengung davon überzeugen, dass sein Mitgefühl schwerer wog als der Einwand, sie habe sich diese Suppe selbst eingebrockt. Gleichzeitig störte ihn seine Gleichgültigkeit, weil sie nicht echt war, sondern ein Versuch, mit der Einsamkeit klarzukommen, der ihn am Ende noch einsamer machte. Er wollte dem Gedanken weiter nachgehen, aber Maria beendete ihren Bericht und wechselte mit dem Thema auch den Tonfall. Vergnügt forderte sie ihn auf zu raten, bei welcher internationalen Hilfsorganisation sie neuerdings Mitglied sei.
Er wusste es sofort. Warum tut sie das, fragte er sich.
Keine Ahnung, sagte er. Bei welcher?
Nach dem Abschied am Freitagmittag sei sie am British Council vorbeigeradelt und prompt angesprochen worden, erzählte Maria. Vermutlich von derselben Frau wie er am Morgen. Lange Haare und um die Augen eine komische Rötung, richtig? Während Hartmut seiner Frau zuhörte, erinnerte er sich an ihre Worte damals im Auto: In deiner Wahrnehmung tue ich alles, was ich tue, dir an. Stimmte das, und wenn ja, könnte seine Wahrnehmung trotzdem richtig sein? Im Lauf des Wochenendes hatte er den peinlichen Vorfall aus seinen Gedanken verdrängt, nun brachte Maria ihn zurück. Auf dem Klappentext der DVD las er von »den verrückten Abenteuern von Carrie, Miranda, Samantha und Charlotte auf der Suche nach der großen Liebe – oder dem nächsten aufregenden Sex«. Da war sie wieder, die zermürbende Vieldeutigkeit, die seit Florians Hochzeit ihre Gespräche kennzeichnet. Das stumme Tasten nach dem doppelten Boden, die Unterscheidung zwischen tatsächlich Gesagtem und womöglich Gemeintem. Er suchte nach der richtigen Erwiderung, und sein Zögern erzielte dieselbe Wirkung wie eine direkte Verdächtigung.
Gar nichts habe sie sich dabei gedacht, falls er sich das frage. Es habe sich einfach spontan richtig angefühlt. Ob er jetzt etwa verstimmt sei?
Was sie meinte, war: Ich habe es für dich getan, und dir würde kein Zacken aus der Krone brechen, das anzuerkennen. Indem er es anerkannte und sich wünschte, sie hätte es nicht für ihn getan, machte er die Unbefangenheit des Gesprächs endgültig zunichte. Marias anschließender Frage nach seinem Wochenende war anzuhören, dass sie lediglich nicht sofort auflegen wollte. Ob er Ruth und Heiner ihre Grüße ausgerichtet habe? Ja, log er, schließlich hatte sie ihm keine aufgetragen. Am Freitagmittag waren sie liebevoll auseinandergegangen, am Sonntagabend legte er in dem Wissen auf, dass die Halbwertszeit ihrer ehelichen Harmonie zweieinhalb Tage beträgt. Aber nur, wenn sie in der Zwischenzeit nicht kommunizieren. Obwohl sie immer häufiger miteinander reden wie in einem Lehrfilm für Paartherapie. Wenn er sich abreagieren muss, brüllt er ins erschrockene Gesicht
Weitere Kostenlose Bücher