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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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Überlegen Sie bitte, wer in Frage kommt. Nächste Woche sehen wir uns in meinem Büro.«
    »Das wird mein herzliches Vergnügen sein«, versichert sein Doktorand gewohnt zuversichtlich. Dann wartet er neben dem Treppenabsatz, bis Hartmut in die Tiefgarage hinabgestiegen ist und sich noch einmal grüßend umgeblickt hat.
    Auf dem Weg durch die Innenstadt überlegt Hartmut, wie er es angehen soll, die Arbeit in seiner Tasche durch einen Bonner Prüfungsausschuss zu bekommen. Falls der Inhalt seinen Erwartungen entspricht, dürfte das schwer werden. Am Wochenende hat er Ruth von den schiefen Blicken erzählt, die ihm jedes Mal begegnen, wenn er einen Ausschuss zusammenstellen muss. Du übertreibst, meinte sie, als er behauptete, dass seine Kandidaten mittlerweile schon deshalb im Nachteil seien, weil sie als seine Kandidaten anträten. Über sein letztes Buch hieß es im Philosophischen Journal , so klingt es, wenn Professoren sich für Originalgenies halten. Vielleicht übertreibt er,aber nach dem Debakel mit seiner iranischen Doktorandin hat Breugmann ihn tatsächlich unter vier Augen gebeten, künftig keine Mildtätigkeiten mehr zu üben an zwar sympathischen, aber unzureichend qualifizierten Ausländern – und Charles Lin ist außer Maria wenigen Leuten sympathisch. Seine bisweilen durchscheinende Bockigkeit hat vor Hartmut schon andere verprellt.
    Als er in die Robert-Koch-Straße abbiegt und den Venusberg hinauffährt, stellt Hartmut das Problem zurück und legt den Ellbogen ins offene Seitenfenster. Der WDR-Sendemast reckt sich in den strahlend blauen Abendhimmel. Das ist der Moment, in dem er früher dem angenehmsten Teil des Tages entgegengeblickt hat. Seit zwei Jahren reduziert sich seine Vorfreude auf das Bild einer grünen Flasche Alvarinho in der Kühlschranktür. Außerdem hat er im Keller eine Kiste voller DVDs entdeckt; fast hundert Stück, die ihm bei der Suche nach dem Auffangbeutel des elektrischen Rasenmähers in die Hände gefallen sind. Größtenteils amerikanische Serien und Filme, die den Geschmack eines Teenagers widerspiegeln. Vor dem Umzug nach Hamburg muss Philippa diese Zeugnisse einer überwundenen Lebensphase im Keller deponiert haben. Dass ihr Vater an manchen Abenden einsam genug ist, sich solchen Schund zuzumuten, weiß sie bis heute nicht. Um die Schmach zu mildern, stellt er auf Originalfassung und sagt sich, er frische sein Englisch auf. Portugiesische Telenovelas sind auch darunter.
    In der Sertürner Straße haben die Geschäfte bereits geschlossen; ohnehin eine kümmerliche Ladenzeile, die aus wenig mehr als Bäckerei, Zeitschriftenladen und Apotheke besteht. Als Willy Brandt noch um die Ecke gewohnt hat, ging es dem Einzelhandel besser, weiß Hartmut aus aufgeschnappten Bemerkungen an der Kasse. Er fährt weiter bis zum Kaiser’s Markt, kauft Wurst, Käse und eine Kiste Wasser, dann sitzt er wieder in seinem Passat, öffnet eine der Flaschen und trinkt in gierigen Schlucken. Um ihn herum werden Autotüren zugeschlagen, starten Motoren und bringen zwei Jungs im Grundschulalterden Einkaufswagen zurück, mit vollem Karacho und haarscharf vorbei an den Obstauslagen vor dem Eingang. Ihr Lachen erreicht ihn gedämpft und unwirklich.
    Langsam rollt er vom Parkplatz, biegt nach dreihundert Metern in den Kiefernweg ein und betrachtet eine Weile das spitzgieblige Eckhaus, das sie damals auch hätten kaufen können. Heute gehört es einem jungen Kollegen von der naturwissenschaftlichen Fakultät. Eins der beiden Kinder kann Hartmut als bunten Fleck hinter der Hecke ausmachen. Auch die Mutter in einer grünen Gartenschürze glaubt er zu erkennen, dort wo eine Natursteintreppe hinauf zur hinteren Veranda führt. Als er eine Bewegung wahrnimmt und auf sich bezieht, wendet er den Wagen, fährt weiter und hat nach drei Minuten sein Haus erreicht.
    Statt in der Einfahrt zu parken, bleibt er am Straßenrand stehen und legt die Hände aufs Lenkrad. Ringsum sind die meisten Nachbarn in den Ferien, schlummern Häuser mit heruntergelassenen Jalousien der Rückkehr ihrer Bewohner entgegen. In seinem Haus sind die Rollläden hochgezogen, und trotzdem sieht es verlassen aus. Das Gras steht kniehoch. Auf der Terrasse liegen zwei gelbe Torfsäcke aus dem Godesberger OBI-Markt, von denen einer im Frühjahr von Mardern aufgebissen wurde. Dunkle Masse quillt aus dem Loch. Maria findet bei ihren Besuchen keine Zeit, sich um die wenigen Topfpflanzen zu kümmern, die seine mangelnde Zuwendung überlebt

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