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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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diese Dinge zu sprechen, ist einerseits abwegig und andererseits: In Berlin kennt er keinen Menschen, die beiden einzigen Unterredungen der letzten Woche hat er mit dem Vermieter und seinem neuen Chef an der TU gehabt. Hinter der nächsten Kurve öffnet sich das Tal, und da hockt das Schloss, sonnt sich unbekümmert und reglos wie ein Frosch auf seinem Stein.
    »Sandrine«, sagt er.
    »Klingt nicht amerikanisch.«
    »Wir reden ein andermal darüber.«
    Danach schweigen sie, bis Ruth den Wagen durch die schattige Senke hinter dem Schlossberg lenkt und wieder hinein ins Sonnenlicht. Ein Neubaugebiet zieht sich den Hang entlang, eine Reihe hölzerner Firste, von denen die Tannenkränze kürzlich gefeierter Richtfeste baumeln. Braun gebrannte Bauarbeiter trotten zu ihren Fahrzeugen. Ruth biegt links ab, und wenn sein Orientierungssinn ihn nicht täuscht, fahren sie jetzt in Richtung des alten Landratsamtes. Vielleicht ist es Widerwille, was in ihm aufkommt; stärker empfindet er das Erstaunen, tatsächlich zurückgekehrt zu sein. Stan Hurwitz dachte, er tue ihm einen Gefallen, wenn er sich für ihn verwendet. Eine Belohnung für die vielen Abende in seiner Zelle. Ohne Job wäre die Aufenthaltsgenehmigung ohnehin ausgelaufen.
    Seine Schwester lässt den Wagen ausrollen und deutet mit dem Kinn auf ein Grundstück, von dem nur dichte Hagebuttenhecken und die grünen Kegel zweier Tannen zu erkennen sind.
    »Da sind wir.«
    »Geht’s da vorne zum Landratsamt?«
    »Ein Mal links abbiegen, in zwei Minuten bist du da. Wärst du da.«
    »Wo sind unsere Eltern?«
    »Vater ist noch in der Fabrik. Wir trinken Kaffee, und dann hol ich sie.«
    Hartmut nickt und versucht, durch die Hecken hindurch etwas von dem Haus zu erspähen. Natürlich hat seine Schwester ihm Fotos geschickt, und er hat sich ein paar anerkennende Zeilen abgerungen, bevor die Bilder in seiner Schreibtischschublade verschwunden sind. Jetzt spürt er Ruths Blick am Hinterkopf und weiß, was sie als Nächstes sagen wird.
    »Bemüh dich, okay. Die beiden freuen sich wahnsinnig auf dich.«
    »Okay.«
    »Freust du dich gar nicht?«
    Noch einmal wendet er den Kopf, bevor er aussteigt.
    »Seit wann sagst du dauernd wahnsinnig?«
    Der Aufgang besteht aus quadratischen Steinplatten, die durch einen Durchlass im Gesträuch führen und auf einer ebenen Rasenfläche enden. Das Haus steht etwas höher, ein schlichter Bau mit Terrasse und zwei vorstehenden Seitenflügeln, deren rechter noch unverputzt ist und das Muster roter Hohlblocksteine zeigt. Links wurde auf das Dach ein spitzer Giebel aufgeschlagen, und wo einmal die Fenster sein werden, hängen helle Plastikplanen. Drinnen heult eine elektrische Säge.
    »Unsere Baustelle.« Ruth ist neben ihm stehen geblieben.
    »Schönes Grundstück.« Gemüsebeete liegen im Schatten desHauses. Sattes grünes Sonnenlicht fließt durch die Hecke und fällt auf drei junge Buchen im äußersten Winkel des Gartens.
    »Wo die Bäume stehen, soll irgendwann eine ordentliche Treppe hin. Im Moment heißt der Ort noch Räuberhöhle, und ich glaube, es sind auch gerade zwei Räuber drin.« Hinter Ästen und Blättern ist eine Bewegung auszumachen, und kurz darauf schleichen zwei kleine Jungs aus dem Dickicht, blond und splitternackt, und bleiben in sicherer Entfernung vor dem Neuankömmling stehen. Einer trägt eine Schirmmütze auf dem Kopf und einen abgebrochenen Zollstock in der Hand, die Hände des anderen spielen mit dem gebogenen Zipfel in seiner Körpermitte.
    »Was für eine Begrüßung.« Ruth schüttelt den Kopf, aber ihr Mutterstolz ist so offensichtlich, als hätte sie das Wort auf ein Plakat geschrieben und mit ausgestreckten Armen über den Kopf gehalten. »Habt ihr zwei keine Hosen?«
    »Wer ist wer?«
    »Der mit der Mütze ist Felix. Also muss der andere Florian sein. Hey, ihr Räuber, wo sind eure Hosen?«
    Die zwei nackten Kinder ziehen sich wieder ins Gebüsch zurück, aber als Hartmut auf der Terrasse steht, sieht er sie durch Lücken im Blattwerk das Geschehen beobachten. Entgegen seiner Erwartung fühlt er sich wohl – so wie man durchfroren an einem fremden Kamin sitzt, in geliehenen Socken und zu süßen Kakao trinkend. Keine Wolke hängt über dem Ort, das Geschrei im Freibad dringt aus dem Tal herauf. Als kleiner Junge hat er einmal auf dem Drei-Meter-Brett gestanden und sich nicht getraut zu springen. Mit neun oder zehn Jahren. Stand wie gelähmt vorne an der Kante, direkt vor dem Abgrund, und ist schließlich mit

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