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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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Stopp.
    Doch. Um ihm die Karte zurückzugeben.
    Eine kühle Brise vom Rhein sorgt für einen Anflug von Nüchternheit. Hinter den Bäumen am Ufer leuchten Post Tower und Langer Eugen in die Nacht. Maria sitzt wahrscheinlich gerade in der U-Bahn. Zwingt er sich zu dem Gedanken, oder wird er gezwungen? Seine Frau auf dem Weg in die zwei kargen Zimmer in Pankow, wo die verstreuten Paraphernalien ihrer Theaterarbeit liegen – Flyer, Plakate, zerfledderte Manuskripte – und sie sich manchmal fragen muss , ob sie das Leben führt, das sie führen möchte. Vor einem Jahr hat er sich wie ein Idiot aufgeführt, aber es ist nicht zu spät, denkt Hartmut und legt einen Arm um Katharinas Schultern. Spürt ihre Hüfte im Taktgemeinsamer Schritte. Schweigend gehen sie die Straße entlang. Wie dunkel es auf dem rückwärtigen Parkplatz sein wird, weiß er bereits, bevor sie um die Hausecke gebogen sind.
    »Dürfen wir eigentlich noch fahren?«, fragt sie.
    »Gerade so. Vielleicht.« Aber wohin?
    »Morgen früh muss ich Marko von meiner Mutter abholen.« Also in die Südstadt, wenn er sich richtig entsinnt. Luftlinie weniger als einen Kilometer entfernt, aber erst müssen sie zurück zur Kennedybrücke.
    »Kavalier, der ich bin, wäre ich bereit, das Risiko auf mich zu nehmen und dich in deinem Auto nach Hause zu bringen.« Er erkennt das metallische Schimmern seines Wagens und den gestelzten Duktus der Verlegenheit. Da Katharina ihn in keine andere Richtung dirigiert, muss der kleine Fiat, auf den sie zugehen, ihr gehören. Ein Aufkleber am Heck bittet darum, nicht zu hupen, weil der Fahrer vom 1. FC Köln träumt.
    Einen Augenblick lang verharren sie in skrupulöser Unschlüssigkeit. Zwei erleuchtete Fenster über ihnen gehören zur Küche, daneben quillt bleicher Dampf aus einem Abzugsrohr. Vier weitere Autos stehen auf dem Parkplatz, dahinter erstrecken sich dunkle Gärten. Dann können sie beide nicht mehr warten.
    Es ist keine langsame zärtliche Annäherung. Hartmut hört eine Handtasche zu Boden fallen, und im selben Moment saugt er fleischige Schärfe von ihren Lippen. Seine Hand fährt unter ihre Bluse und streicht über weiche heiße Haut. Drängt unter den Rand ihres BHs, so wie ihre Hand unter seinen Hosenbund. Mit dem Rücken stößt er gegen ihr Auto, dann halten sie noch einmal inne. Waren da Schritte? Eine Tür? Wollen sie es in diesem schäbigen Hinterhof treiben? Katharina klammert sich fester in die Umarmung und keucht etwas gegen seine Brust, das er nicht versteht. Mit beiden Händen fasst er an ihren Hintern.
    Als sie den Blick hebt, schließt er die Augen. In letzter Sekunde oder eine zu spät. Was auch immer sie als Nächstes sagenwill, liegt bereits in der Luft. Muss nur noch in Worte gefasst und ausgesprochen werden. Schon glaubt Hartmut die Nähe zu spüren, so wie den Druck ihres Körpers gegen seinen. Erst eine Ahnung, dann mehr. Das unbestimmte Wissen um etwas, dem er spätestens morgen wird entkommen wollen.

1978
    »Endlich!«, sagt seine Schwester immer wieder, während sie nicht aufhört, ihn zu drücken und zu herzen. Wie um einen Stein im Wasser fließt der Strom anderer Fahrgäste um sie beide herum, und er spürt feuchte Lippen auf seiner Wange. Ein Pfiff ertönt, der Schaffner geht neben den Waggons entlang und schließt die Türen. Hartmut will nach dem Koffer greifen, aber Ruth hat immer noch die Arme um seinen Hals gelegt, genau wie damals, als er nicht angekommen ist, sondern eingestiegen in den Zug nach Frankfurt. Jetzt allerdings weint seine Schwester nicht, sondern strahlt übers ganze Gesicht, trägt die Haare kurz, wie er es bereits auf den Fotos gesehen hat, und überrascht ihn trotzdem mit ihrem Aussehen.
    »Endlich«, sagt sie ein letztes Mal, bevor sie einander lachend an den Schultern halten, in der Verlegenheit eines Paares, das ohne Musik zu tanzen versucht. Ruth ähnelt nicht länger dem Mauerblümchen seiner Erinnerung. Neugierig erforschen ihre Augen sein Gesicht.
    »Du kriegst graue Haare.« Ihr Zeigefinger deutet abwechselnd auf beide Schläfen, und ihm fällt keine Erwiderung ein. Leichte Nervosität ersetzt die Verträumtheit, mit der er mehrere Stunden aus dem Zugfenster geschaut hat, auf eine hinter Hecken verborgene, sich nur in flachen Ortschaften am Horizont andeutende DDR. Um sie herum wird der Bahnsteig leer. An der Grenze ist alles gutgegangen, will er sagen, aber danach fragtRuth gar nicht, sondern hakt sich bei ihm unter und zieht ihn mit.
    »Los! Ich steh im

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