Fliehkräfte (German Edition)
brennender Scham im Gesicht die Leiter wieder hinuntergestiegen. Warum fällt ihm das jetzt ein?
»Der Amerikaner.« In der offenen Küchentür steht sein Schwager Heiner und wischt sich die Hände. »Lange nicht gesehen. Willkommen auf unserer Baustelle.«
Sie schütteln einander die Hand. Sein Schwager ist mittelgroß und breitschultrig, mit behaarter Brust und kräftigen Armmuskeln. Über der staubigen Arbeitshose trägt er ein Unterhemd und riecht nach Sägemehl und frischem Schweiß. Rötliche Spuren im Gesicht markieren den Abdruck einer Schutzbrille. Insgesamt ist es erst das dritte oder vierte Mal, dass sie einander begegnen.
»Wir sind doch Räuber«, verkündet eine dünne Stimme aus der Hagebuttenhecke.
»Ich glaube, das war ein Lockruf«, sagt Ruth. »Schau mal, ob du irgendwo ihre Hosen siehst. Blaue Shorts mit Flicken am Hintern.«
Es fühlt sich an wie eine Bewährungsprobe, als er den Hang hinuntergeht, ein paar Zweige zur Seite biegt und die Höhle betritt. Die Äste der Buchen halten das Strauchwerk auf Distanz und lassen auf natürliche Weise einen Hohlraum entstehen, in den hinein ein Auto gepasst hätte. Spielzeug und Werkzeug liegen auf dem Boden, eine blaue Luftmatratze, ein Dreirad, Gummisandalen.
»Das ist also eure Räuberhöhle«, sagt er in Richtung der beiden Nackedeis, die ihn unverhohlen anstarren. Unter ihren Blicken fühlt er sich groß und komisch. Wann hat er zuletzt mit Kindern gesprochen?
»Du wohnst in Amerika«, sagt der mit der Mütze, also Felix. Zwei kleine weißhäutige Gestalten, zwischen deren Gesichtern Hartmut keinen Unterschied ausmachen kann. Vor dem Haus hört er die Stimmen von Ruth und Heiner, die damit beschäftigt sind, den Kaffeetisch zu decken. In der Höhle ist es angenehm schattig.
»Nicht mehr. Na ja. Schwer zu sagen. Jedenfalls hab ich lange dort gewohnt. Vielleicht gehe ich wieder zurück.« Im Sitzen ist er immer noch größer als die beiden. Weiche unfertige Kindergesichter, in denen Ruths runde Augen und Wangen die markanteren Züge des Vaters dominieren.
»Nachts schläft ein Igel hier.« Florian zeigt mit einem Stock ins Gebüsch.
Etwas unwiderstehlich Sachliches liegt in der Art, wie die beiden ihm Einlass in ihre Welt gewähren. Hartmut erfährt, dass der Igel manchmal ein Milchschälchen über die Terrasse schiebt und dabei grunzende Laute von sich gibt, die in der Imitation der beiden Kinder an Schweine erinnern. Ihr Spiel gehorcht einer Choreographie aus enger werdenden Kreisen um den Erwachsenen auf der Luftmatratze, als wollten sie ihn einwickeln in die Bahnen ihres Treibens. Es dauert nicht lange, bis einer über sein angewinkeltes Bein stolpert und sich wieder aufhelfen lässt. Kurz darauf hält der andere sich an seiner Schulter fest. Mit meisterhafter Beiläufigkeit reißen die beiden alle Barrieren der Fremdheit nieder und tun schließlich ihren Besitzanspruch kund, indem sich jeder auf einem seiner Oberschenkel niederlässt, sichtlich zufrieden mit dem Verlauf der Eroberung.
»Ist euch beiden gar nicht kalt?« Zwei geflickte Shorts hängen im Geäst, und Hartmut glaubt leichten Uringeruch wahrzunehmen.
Felix zuckt mit den Schultern und stößt einen langen Seufzer aus. Wahrscheinlich ist es auf Dauer ermüdend, Erwachsenen alles erklären zu müssen.
»Wir sind ja nackte Räuber.«
Zehn Minuten später hat Ruth die beiden feuchten Kleidungsstücke entsorgt und ihre Kinder mit frischen Hosen und T-Shirts ausgestattet. Der Kaffeetisch steht auf einem schmalen Rasenstück neben dem Haus. Die Unebenheiten des Bodens werden mit kleinen Holzkeilen ausgeglichen, die zweifellos sein Vater angefertigt hat. Beide Jungs haben Zwetschgenstücke in den Haaren und Sahne im Gesicht, ziehen am Tischtuch, entdecken Flugzeuge am Himmel und experimentieren geschickt mit den unterschiedlichen Quantitäten von Geduld, die ihnen von den Erwachsenen entgegengebracht werden.
»Das ist die zweite Phase«, erklärt Heiner seinem Schwager. »Erst schüchterne Zurückhaltung, dann der abrupte Umschlag ins Gegenteil.«
Felix und Florian beobachten ihn mit neugierigen Blicken,Heiner versucht, eine Unterhaltung über Filbingers Rücktritt in Gang zu halten, und Ruth schaut ihn über den Tisch hinweg an, als läge in alldem eine Lektion für ihn, den Heimkehrer wider Willen. Im Zug hat er zum ersten Mal seit fünf Jahren eine deutsche Zeitung gelesen. Was in der Minneapolis Tribune in die Randspalten passte, beansprucht jetzt den Platz in der Mitte. Der
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