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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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Charles Lindbergh Terminal ins Flugzeug gestiegen ist und sich gesagt hat: Ab sofort warte ich. Alles hängt davon ab, wie Sandrine mit ihrer Arbeit voran- und mit dem Betreuer zurechtkommt. Ihm kam schon der Flug nach Berlin zu lange vor.
    Zwei Tage später saß er in Ernst Simons Büro im Telefunken-Hochhaus. Zu müde, um nervös zu sein. Er hatte die Grüße ausgerichtet, kämpfte mit schweren Augenlidern und wartete darauf, dass Professor Simon seine persönliche Stan-Hurwitz-Story erzählte. Aus irgendeinem Grund kennt jeder eine. Unterden Kommilitonen in Minneapolis kursierten gleich mehrere und handelten von kriegshistorischen Abschweifungen im Seminar, den früheren Heldentaten als Linebacker der Gophers und der profunden Traurigkeit, die diesem Riesen von Mann die Aura eines einsamen Kindes verleiht. Obwohl er Gefühle nie zeigte, sondern darauf vertraute, dass die wichtigen sich von selbst verrieten. Es gibt dort viel für dich zu tun, hatte er zum Abschied gesagt, als entsende er Hartmut auf eine wichtige Mission in der Fremde. Over there. Dass Marsha in Tränen ausgebrochen war, schien ihn peinlich zu berühren.
    »Haben Sie ihn mal betrunken erlebt?«, fragte Simon einleitend.
    Draußen schien die Sonne auf das grüne Dach des Tiergartens. Dieses verqualmte Büro im zwölften Stock hätte einem zwielichtigen Filmproduzenten gehören können, wären da nicht die zweitausend Bücher, von denen Hartmut einige erkannte, während sein Gegenüber Kaffee einschenkte und es nicht eilig zu haben schien mit der Geschichte. Sein und Zeit war eine Überraschung in den langen Reihen englischer Titel und erinnerte Hartmut an Hurwitz’ Worte, es sei ›something fishy‹ in Ernst Simons Verständnis von Philosophie. Keine entschiedene Absage an den kontinentalen Unsinn auf Stelzen, den Simon zwar nicht verteidigte, aber bereit war, ernst zu nehmen. Dergleichen machte einen Mann wie Hurwitz weniger wütend als traurig: die Verführbarkeit der Intelligenz durch puren Schabernack.
    »Das passiert auch nur ein Mal im Jahr«, Professor Simon nippte an seiner Tasse, »am sechsten November, dem Todestag seines Bruders.«
    »Joey.«
    »Sie kennen die Geschichte?«
    »Der Bruder ist im Zweiten Weltkrieg gefallen.«
    »In der Familie galt Joey als das junge Genie mit der großen Zukunft. Konnte mit vier Jahren schreiben, hat zwei Klassen übersprungen, mit neun war er im ganzen County bekannt.1941 hat er in Harvard zu studieren begonnen, Physik, und sofort Aufmerksamkeit erregt. Stan hat erzählt, wie neidisch er als Jugendlicher auf den kleinen Bruder war. Sie kennen ihn, er ist zu groß, um in jemandes Schatten zu stehen. Dann kam der Krieg, und wahrscheinlich wollte Joey zeigen, dass er nicht nur denken und rechnen kann.«
    Hartmut beschränkte seine Reaktion auf ein Nicken. Offenbar wusste Simon nicht, dass Joey sich gemeldet hatte, weil sein älterer Bruder mit gebrochenem Bein im Krankenhaus lag. Eine Trainingsverletzung. Nach einem halben Jahr musste das Bein noch einmal gebrochen werden, sonst wäre im November44 nicht Joey, sondern Stan in den Hürtgenwald gekommen. Als Reservist und ohne Fronterfahrung.
    »Ein Mal war ich zufällig dabei«, sagte Simon. »Nach einer Tagung abends im Hotel. Sechster November56. Draußen Schneeregen und drinnen Stan Hurwitz, der immer lauter, wütender und weinerlicher wurde. Ich hab versucht, ihn zum Aufhören zu überreden, aber da war nichts zu machen. Irgendwann standen alle im Halbkreis um unseren Tisch und haben die Geschichte angehört. Kellner, Gäste, Kollegen. Ich mittendrin, der einzige Deutsche. Obwohl er gar nicht wusste, was genau passiert war.« Simon stellte seine Tasse ab, setzte die Brille auf und sah Hartmut an. »Wie komme ich jetzt darauf?«
    Die folgende Unterhaltung besaß wenig Ähnlichkeit mit dem, was Hartmut sich unter einem Bewerbungsgespräch vorgestellt hatte. Im Lauf von anderthalb Stunden rauchte Simon acht oder neun filterlose Roth-Händle, sprach vom zarten Pflänzchen der analytischen Philosophie in Deutschland und fragte nach Hartmuts Plänen für die Habilitation. Dass die Arbeit, die Hartmut ihm in wenigen Sätzen skizzierte, bereits von jemand anderem geschrieben worden war, schien ihn zu amüsieren, aber sein Blick deutete an, dass er auch anders konnte.
    »Sie hatten in den USA nicht viel Zugang zu deutscher Literatur. Folglich haben Sie was nachzuholen, nicht übermäßig viel, aber etwas. Fangen Sie gleich an.«
    »Ich werde mir Mühe

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