Fliehkräfte (German Edition)
Halteverbot. Ich war viel zu spät.« Gut gelaunt dirigiert sie ihn eine Treppe hinab und wieder hinauf in die nach Urin riechende Bahnhofshalle. Tauben hocken auf der Balustrade über dem Ein- und Ausgang. »Gerade als ich losfahren wollte, brauchte Florian ein Pflaster. Und wenn der eine ein Pflaster bekommt, will der andere natürlich auch eins. Auf dieselbe Stelle.«
»Haben die beiden eine Idee, wer ich bin?«
»Jede Menge Ideen, sieh dich vor. Sie sind wahnsinnig gespannt. Da du trotz mehrmaliger Aufforderung kein Foto geschickt hast, erwarten sie allerdings einen dunkelhaarigen Onkel. Sag, wann hat das angefangen?«
Ruths Käfer steht auf dem Bordstein vor dem Taxistand und erregt den Missmut einiger Fahrer. Die Autobahnbrücke, an die Hartmut sich als eingerüstete Baustelle erinnert, blockiert den Blick auf die Stadt. Der Marburger Bahnhof steht, wo die auf ihn zulaufende Straße rechtwinklig abknickt und die Pendler hinaus in die Dörfer leitet. Alles wirkt vertraut und neu. Damals ist er ein Mal in der Woche vom Bahnhof zur Verwaltungsschule gefahren, später täglich zur Uni, aber Ruth lässt ihm keine Zeit für nostalgische Betrachtungen, sondern klappt den Sitz nach vorne, damit er sein einziges Gepäckstück auf die Rückbank wuchten kann. In dem Arnau, das er kennt, gehen junge Mütter nicht in so kurzen Röcken auf die Straße. Außerdem trägt sie Sandalen und eine rote Bluse mit weitem Kragen. Weiß sie, wie sehr ihre Veränderung ihn erstaunt? Im Auto setzt sie eine riesige Sonnenbrille auf und schaut ihn an.
»Heiner sagt, ich sehe aus wie eine Stubenfliege mit dem Ding. Was meinst du?«
Erst jetzt fällt ihm auf, dass sie Hochdeutsch mit ihm spricht. Ohne auf eine Antwort zu warten, schaltet sie energisch, drängt sich in den Verkehr auf der Bahnhofsstraße und lenkt den Wagen aus der Stadt hinaus. Ruth Brunner heißt sie, seit vier Jahren schon.
Dass er kein Geschenk für die Zwillinge mitgebracht hat, quittiert sie mit einem wortlosen Nicken. Warme Luft streicht durch die offenen Fenster herein, und ihn befällt das Gefühl, in den Sog eines Trichters zu geraten. Die Bundesstraße verläuft rechts der Lahn zwischen sonnigen Feldern und grünen Hügeln, durch ein Abziehbild ländlicher Idylle, das er mit einem Blick wiedererkennt und weniger abstoßend findet, als er geglaubt hat. Fachwerkhäuser und breite Ortsdurchfahrten, sorgfältig gestaltete Vorgärten, Jägerzäune und Kirchturmspitzen. Er ist nicht mehr der, der er war, als er ging. Das zu wissen tut gut. Als Beamter auf Probe wird er ab September monatlich 3290 Mark und 94 Pfennige brutto verdienen. Seit einer Woche denkt er an diese Zahl wie an ein süßes Geheimnis. Was haben sie damals gestaunt, als das Gehalt seines Vaters vierstellig wurde.
»Hartmut schweigt«, sagt Ruth.
»Ist ein komisches Gefühl, nach so vielen Jahren.« Er streckt einen Arm nach draußen und spürt den Fahrtwind in der Handfläche. »Du hast nie daran gedacht, hier wegzuziehen?«
»Wir haben ein Haus gekauft. Heiner hat seine Stelle hier.«
»Davor. Grundsätzlich.«
»Es gab die Überlegung, für eine Zeit ins Ausland zu gehen, an eine deutsche Schule. Aber dann kam das Angebot mit dem Haus, und seitdem ...« Sie zuckt mit den Schultern. »Es ist schön, ein eigenes Haus zu haben. Auch wenn unseres vorläufig eine Baustelle bleibt.«
»Verstehe. Zurück ans Krankenhaus willst du nicht?«
»Im Moment werde ich zu Hause am meisten gebraucht. Außerdem war ich nie wie du. So unzufrieden und wütend auf alles – Hauptsache weg.«
In einem Eiscafé links der Straße herrscht reger Betrieb, mehrere Kinderwagen und Fahrräder stehen um eine Ansammlung bunter Sonnenschirme. Rialto heißt der Laden. Die Wut, denkt er und hört Kinderstimmen, die im Vorbeifahren an sein Ohrdringen. Was ist eigentlich mit seiner Wut passiert in den Jahren in Amerika?
»Und du?«, fragt Ruth. »Hattest du nie Heimweh?«
»Heimweh wonach?«
»Nun, wie der Name schon sagt.« Sie wirft ihm einen Blick zu, als wolle sie vor dem nächsten Satz das Gelände sondieren. »Anders als unsere Eltern habe ich übrigens nicht geglaubt, dass du deine Tage da drüben ausschließlich in Hörsälen und Bibliotheken zubringst.«
»Aha.«
»Sag schon. Wie heißt sie?«
Unwillkürlich wendet er das Gesicht nach rechts, wo der Waldrand wie ein grünes Band an ihm vorbeizieht. Nicht mehr lange, dann wird das Bergenstädter Schloss auf seinem Hügel auftauchen. Die Idee, mit Ruth über
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