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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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verlässt.«
    »Keine Folgeschäden?«
    »Ich bin eine Nacht zur Beobachtung geblieben. Die Ärzte haben mir erklärt, dass ich keine Hirnblutung hatte. Ein Herzfehler war die Ursache.« Sie liest das nächste Wort von ihrer Liste, ein langes diesmal, das Hartmut nicht versteht. »Im Kern bedeutet es mangelnde Koordination. Ein bisschen Blut bleibt vor den Herzkammern stehen, dadurch bilden sich Gerinnsel. Ich hab ein Mittel zur Blutverdünnung bekommen. Ursprünglich ein Rattengift, kein Witz. Mein Arzt konnte mir nicht sagen, wie man rausgefunden hat, dass es zur medizinischen Behandlung taugt. Das muss ich jetzt nehmen für den Rest meines Lebens: Coumadine. Klingt wie ein indonesisches Gewürz, ist aber Rattengift und schmeckt ein bisschen nach Vanille.«
    »Und du kletterst wieder.«
    »Die Ärzte meinten, ich muss selbst wissen, ob ich das Risiko auf mich nehmen will. Stürze sind gefährlich wegen des dünnen Blutes. Virginie hat bloß gesagt: Du stürzt nicht, ganz einfach. Falls du dich gefragt hast, warum ich dieses enge Verhältnis zu einer Cousine habe, die meine Tochter sein könnte – deshalb. Weil Freundinnen meines Alters betroffen den Kopf geschüttelt und von Kuren gesprochen haben. Mir einschärfen wollten, dass ich besser auf mich aufpassen muss. Schließlich lebe ich alleine! Was, wenn es wieder passiert, nachts? Virginie meinte, die beste Kur ist weiterleben wie vorher. Ein Mann mag seine Vorzüge haben, aber im Zweifelsfall schläft er sowieso. Zur Schlaganfallprävention ist Rattengift besser.«
    »Als ich reinkam, hast du gesagt, du seist noch nicht wieder ganz die Alte. Du hast abgenommen.«
    »Gefall ich dir nicht?« Noch immer sitzt sie dicht neben ihm und lehnt den Kopf gegen seine Schulter. Trotzdem wirkt sie verändert. Weniger angespannt und nicht länger auf Widerspruch aus, sondern trostbedürftig gegen ihren Willen. »Wahrscheinlich hätte ich nicht davon anfangen sollen. Ich rede ungern darüber, schließlich ist nichts Schlimmes passiert. In den ersten Wochen hab ich weitergelebt wie vorher, genau wie meine Cousine meinte. Nur den Lehrauftrag konnte ich nicht fortsetzen, weil ich täglich zur Blutuntersuchung musste. Das hat mir beinahe mehr zu schaffen gemacht als der Schlaganfall selbst. Wie soll man sich gesund fühlen, wenn man jeden Tag mit Ärzten zu tun hat? Irgendwann ging es dann los. Ich saß am Schreibtisch und hab Schweißausbrüche gekriegt, von einem Moment auf den anderen. Die Ärzte sagen, es kommt vor, dass der Schock mit Verzögerung einsetzt. Der Körper erholt sich schneller als der Kopf. Manchmal träume ich von den armen Teufeln, die ich auf der Stroke Unit gesehen habe. Die mit den halbseitigen Lähmungen, die drei Monate Reha machen müssen, bevor sie’s wieder alleine aufs Klo schaffen. Das Ganze ist Anfang März passiert, und seitdem habe ich das Gefühl, als gebe es in mir eine zweite Person. Die schwache kleine Frau, der ich nie ähneln wollte und auch jetzt nicht ähneln will. Mein ganzes Leben lang hab ich sie in den Schrank gesperrt, und auf einmal drückt sie von innen gegen die Tür. Es ist der Gipfel der Ironie. Weißt du, wen ich meine?«
    Weder ihren Vater noch die Mutter hat Hartmut je gesehen, nicht einmal auf Fotos, aber Sandrines Beschreibungen waren eindrücklich genug. Vor seinem inneren Auge erscheint ein abgedunkeltes Zimmer, in dem es nach Blumen und Seife riecht. Still über der Decke gefaltete Hände.
    »Ich weiß noch, was du über sie gesagt hast: Eine gebildete kluge Frau, die alles, was sie schluckt, Aspirin nennt.«
    Das Nicken, mit dem Sandrine seine Vermutung bestätigt, wirkt dankbar.
    »Das letzte Drittel ihres Lebens hat sie im Sanatorium verbracht. Das war die beste Lösung für beide. Mein Vater konnte arbeiten und Geliebte haben, und meine Mutter hat sich ganz ihren Leiden hingegeben, frei von jeder Verantwortung für ihr Leben. Nachdem ich aus Amerika zurückgekommen war, hab ich sie nicht mehr oft gesehen, das war die beste Lösung für mich. Im Grunde habe ich ihr ihre Schwäche nie verziehen. Eine körperlich gesunde Frau, die ihr Leben im Bett verbringt. Vor fünfzehn Jahren ist sie gestorben, seitdem habe ich kaum an sie gedacht. Virginie, wer sonst, musste mir erklären, wer die Person im Schrank ist, von der ich mich bedrängt fühle. Ich wollte nicht glauben, dass zwischen uns Ähnlichkeiten bestehen, aber natürlich bestehen sie. Wie nicht? Sie war meine Mutter.«
    Hartmut sagt nichts, greift nur nach ihrer

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