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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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Hand, die ihm kälter vorkommt als zuvor. Gerne würde er sich besser an die damaligen Gespräche erinnern, an die Orte und die Umstände, aber es sind nur Versatzstücke. Versprengte Zitate.
    »Seitdem versuche ich, gewisse Erschütterungen zu vermeiden«, sagt sie. »Ich leiste mir eine Egozentrik, die ich früher peinlich gefunden hätte. Arbeite weniger, gehe regelmäßig zur Massage und so weiter. Schaue weniger Nachrichten und trinke kaum Alkohol. Ich mag nicht, wer ich bin im Moment, aber zumindest für eine begrenzte Zeit muss ich mich so akzeptieren.« Ruckartig richtet sie sich auf und sieht ihn an, als würde sie ihre Worte im Geist noch einmal durchgehen. »Das war die sehr lange Erklärung meiner ersten Reaktion auf deine E-Mail. Ich hab sie gelesen und einen Moment lang gedacht: Vielleicht lieber nicht.«
    »Verstehe.«
    »Dann hab ich mir gesagt: Scheiß drauf. Wenn der Kerl unbedingt will, soll er kommen. Hab ich vorhin gesagt, ich hätte lange überlegt, ob ich antworten soll? Es war eine halbe Stunde.«
    Erst als Hartmut ihre Hand an seine Lippen führt, fällt ihm auf, dass es sich um eine Geste aus seinem Repertoire ehelicher Zärtlichkeiten handelt. Falls Sandrine das spürt, lässt sie sich nichts anmerken. Draußen ist aus dem kühlen Nachmittag ein milder Abend geworden, der seine Sonnenstrahlen durch die offene Balkontür schickt. Die Wolken, die er am Morgen über dem Opernhaus beobachtet hat, haben den Himmel über Paris geräumt. Langsam zieht von Westen her ein blasses Abendrot herauf. Es tut gut zu wissen, dass er jetzt nichts sagen muss.
    »Wenn ich schon dabei bin«, fährt Sandrine fort. »Neulich ist was Merkwürdiges passiert, ein Beispiel für die seltsamen Anwandlungen, die mich gelegentlich überkommen. Vielleicht gefällt es dir. Ich hab in dem kleinen Gemüseladen um die Ecke eingekauft, die üblichen Sachen fürs Wochenende, unter anderem einen Beutel Kartoffeln. Seit Amerika mag ich Kartoffeln. Ich hatte den Beutel in der Hand und wollte ihn gerade in meinen Korb legen, als du auf einmal neben mir standest und sagtest: They are such a pain to pick, you know.« Die Imitation seiner Stimme gelingt nicht und Sandrine schüttelt sich, alswäre es ihr peinlich. Auch ihre Hand zuckt, aber Hartmut hält sie fest.
    »Sind sie wirklich«, sagt er. »Sogar in deinen Phantasien weiß ich, wovon ich spreche. Das ist ein gutes Zeichen.«
    »Ich konnte hören, wie du das sagst, okay? Direkt neben mir, als würdest du mir über die Schulter schauen. Im ersten Moment war ich erschrocken und dachte: Jetzt ist es so weit, jetzt verliere ich den Verstand, genau wie meine Mutter. Gleichzeitig musste ich laut lachen, mitten im Laden. Es ist kein witziger Satz, nur klang er in dem Moment wie etwas, das du genau so sagen würdest. Verstehst du, was ich meine? Da stand ich, eine nicht mehr junge Frau, den Einkaufskorb und einen Beutel Kartoffeln in der Hand. Lachend über nichts. So weit ist es mit mir gekommen.«
    »Ich hab mich in den letzten Monaten auch ein paar Mal so verhalten, dass ich mich hinterher fragen musste: Was ist los mit mir? Wahrscheinlich gehört es einfach ...«
    »Du verstehst nicht, was ich meine, Hartmut.« Sie legt eine Eindringlichkeit in ihre Stimme, die er von früher kennt. »Es war ein schöner Moment. Mir war völlig egal, ob andere mich sehen und was sie denken. Es war real!«
    In der Rue Lamarck quietschen Reifen. Ein Hupen ertönt, dann schüttelt Sandrine den Kopf, greift nach der Weinflasche und gießt den restlichen Inhalt in sein Glas.
    »Vielleicht sollten wir demnächst was essen. Was meinst du?«
    »Gerne. Ich hab heute nur gefrühstückt.«
    »Eigentlich wollte ich dich ins Au Relais einladen, aber jetzt hab ich keine Lust mehr rauszugehen. Ist es okay, wenn wir eine Kleinigkeit bestellen?«
    Mit einem Nicken zeigt er auf die leere Weinflasche. Sandrine steht auf und ist bereits an der Tür, als sie sich noch einmal umdreht: »Hilf mir auf die Sprünge. Gab es irgendwas, was du nicht isst? Meeresfrüchte, Schweinefleisch? Sind deine Zähne noch in Ordnung?«
    »Danke der Nachfrage. Bestell, was du selbst magst.«
    »Okay. Danach will ich endlich wissen, was dich hierhergetrieben hat.«
    »Wir haben genug Zeit. Ich werd dir alles erzählen.«
    »Genug Zeit, hm? Wenn du es sagst.«
    Kurz darauf hört Hartmut sie in der Küche telefonieren.
    Seine Armbanduhr zeigt halb acht. Der linke Fuß ist eingeschlafen, und um das Kribbeln abzuschütteln, steht Hartmut auf

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