Fliehkräfte (German Edition)
Ich war wach und bei Sinnen, und es hat nicht weh getan. Im Grunde wusste ich sogar, was ich sagen wollte. Bloß hatte dieses Etwas keine Form. Als ich auf den Zettel geschaut habe, standen dort Wörter in meiner Handschrift, aber auch nur ein einziges davon vorzulesen kam mir vor wie eine Herkulesaufgabe. Wo anfangen? Die Studenten wurden unruhig; alle haben mich angesehen und miteinander getuschelt. Später hab ich gehört, wie eine Studentin zu den Sanitätern sagte: Sie hat fast zwei Minuten stumm vor sich hin gestarrt. Und ich dachte: Zwei Minuten, was für ein Quatsch! Ich musste mich doch nur für ein paar Sekunden sammeln. Gleichzeitig wusste ich, dass ich einen komischen Eindruck mache, also wollte ich mich entschuldigen. Ging aber auch nicht. Stattdessen hab ich mich brabbeln gehört! Unverständliche Laute, die aus meinem Mund kamen. Was soll der Blödsinn, dachte ich. Ich war nicht schockiert, sondern verärgert. Dann hat jemand sein Handy aus derTasche gezogen und begonnen zu telefonieren. Das hat mich so was von empört. Jetzt machen die, was sie wollen! Aber ich konnte nichts sagen. Die Welt stand mir vor Augen wie immer, und ich war eingeschlossen in mir selbst. Obwohl ich denken konnte, vielleicht sogar präziser und kleinteiliger als normal, aber ohne Ordnung. Das merkwürdigste Gefühl. Übrigens hab ich mich wirklich auf deinen Besuch vorbereitet. Hab ein paar Begriffe nachgeschlagen, weil ich genau wusste, früher oder später muss ich dir die Geschichte doch erzählen. Irgendwo auf dem Tisch liegt mein Spickzettel.« Sie beugt sich nach vorne, um danach zu suchen. »Je älter ich werde, desto mehr ähnele ich dir. Geheuer ist mir das nicht.«
»Such nicht nach dem Zettel. Was hattest du?«
»Technisch gesehen war’s eine Art Schlaganfall.« Ihr Gesicht kann er nicht sehen, weil sie sich über den Tisch streckt und in den Papieren wühlt. »Bloß, dass du immer wusstest, wo deine Sachen liegen.«
»Ein ... was? Was heißt ›technisch gesehen‹?«
»Das ist eine Formulierung, die ich benutze, um nicht sagen zu müssen, ich hatte einen Schlaganfall. Hier ist er.« Mit einem gelben Notizzettel in der Hand lehnt sie sich wieder zurück und blickt auf die Einträge. »Denk bitte an unsere Abmachung, kein betroffenes Gesicht.«
»Erzähl, Sandrine!«
»Der Student mit dem Handy hat später gesagt, seinem Großvater sei dasselbe passiert, deshalb hat er die Situation erkannt und den Notarzt gerufen. Tja, ich hab einen Aussetzer im Seminar, und durch die Tür kommen Sanitäter. Zum ersten Mal in meinem Leben wurde ich auf einer Trage transportiert. Mit Blaulicht und Martinshorn durch die Stadt. Ich konnte die Leute um mich herum genau verstehen. Der Fahrer hat zu jemandem gesagt: Ich komm um vor Hunger. Und ich dachte: Schokolade in der Tasche. Scho-ko-la-de. Es erschien mir schon weniger kompliziert, aber dann gingen die Türen auf, und ich bin weitergeschwebt. Hier. Bei uns sagt man UNV.«Der erste Eintrag auf ihrem Zettel. »Auf Englisch heißt es Stroke Unit.«
»Du hattest einen richtigen Schlaganfall?«
»Nein, Hartmut. Ich versuche dich zu unterhalten, wenn du extra aus Bonn kommst. Einen Schluck Wein dazu?« Sandrine muss den Hals verdrehen, um ihn anzuschauen. Nicht streng, eher peinlich berührt, als wollte sie sagen: Lass dich von meinem Tonfall nicht täuschen. Also hält er den Mund. Am Beginn ihrer Geschichte hat er sich an das erste Auftreten seines Ohrgeräuschs erinnert, den kurzen Aussetzer seines Verstandes an jenem Abend. Sandrines Fall ist offensichtlich ernster.
»Die Abteilung«, sagt sie, »kannst du dir vorstellen wie eine Hotelküche um acht Uhr. Im ersten Moment ist alles an mir vorbeigerauscht. Es geht viel zu hektisch zu, als dass man irgendwas in sich aufnehmen könnte. Time is brain, lautet das Motto. Ich wurde auf Lähmungen untersucht, kam in eine Röhre und wieder raus. Die Ärzte haben eine Reihe von Tests gemacht, wie im Kasperletheater. Fassen Sie sich mit der rechten Hand ans linke Ohr! Sprechen Sie mir nach! Ich konnte schon wieder reden, langsam zuerst, weil ich Angst hatte, dass nur Gebrabbel kommt, aber nach einer Weile war alles normal. Wenige Stunden. Es war der berühmte Schuss vor den Bug, wurde mir später gesagt. Der Körper gibt zu bedenken, dass für sein Funktionieren keine Garantie besteht. Man ist an einen launischen Vertragspartner gebunden. Genau genommen besteht gar kein Vertrag. Man hat so lange Glück, bis es einen
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