Fliehkräfte (German Edition)
war alles in diesem einen kurzen Moment verpufft. Im Grunde ist gar nichts passiert, dachte er verwundert.
»Ich kann das nicht.« Katharinas Kopf lag auf seiner Brust, als stünden sie schon lange in regloser Umarmung. Als wäre ihre Handtasche aus Versehen zu Boden gefallen und dieKleidung hätte der Wind zerzaust. »Mit einem verheirateten Mann.«
Am liebsten hätte er gesagt, dass er keine Erklärung brauchte. In Gedanken verfolgte er den anderen Weg bis zu all dem, was ihm nun erspart bleiben würde: die Verlegenheit, die gestammelten Anklagen und Rechtfertigungen, die ganze verkrampfte Kasuistik des Morgens danach. Stattdessen ein paar Sachen packen und wegfahren, gleich morgen früh. Aus offenen Küchenfenstern drangen Stimmen und das Klappern von Geschirr. Hinter dem Parkplatz hielten Bäume ihre Äste still und wisperten durch die Blätter.
»Ich kenne es von beiden Seiten«, sagte sie leise. »Es war seine Art, sich über die berufliche Demütigung hinwegzutrösten. Und meine, mich an ihm zu rächen. Das Ende ist bekannt.«
Hartmut legte seine Arme um ihre Schultern. Es tat gut, nicht angreifbar zu sein durch das, was sie sagte. Die Verantwortung lag anderswo. Als wollte sie das bestätigen, hob Katharina den Kopf und zögerte nur kurz, bevor sie ihn küsste. Die Übertretung lag hinter ihnen, der Weg nach vorne war versperrt, aber im Hier und Jetzt, zwischen den Autos auf dem nächtlichen Parkplatz, waren sie frei zu tun, was sie wollten. Von der Straße hörte er fröhliche Stimmen und Schritte, die sich zum Glück schnell wieder entfernten.
»Danach hab ich mir geschworen, es nicht mehr zu tun. Weder die Betrogene zu sein noch die Betrügende. Auch nicht die an einer fremden Ehefrau.«
»Das ist ...« Er musste sich zwei Mal räuspern, bevor er weitersprechen konnte. »Sehr nobel von dir.« Was sollte er sonst sagen?
Ein letztes Mal fuhren seine Hände über ihren Rücken, ertasteten feineren Stoff und die beginnende Rundung ihres Pos. Die Lust war noch da, das eingesperrte Tier, dessen Bedürfnisse nicht mehr zählten. Dann ließ er sie los und sagte: »Ich fahr dich nach Hause.«
Jeder für sich richteten sie ihre Kleidung und stiegen ein. Aufder Rückbank lagen zerfledderte Comic-Hefte. Hartmut fuhr den Sitz nach hinten und justierte den Rückspiegel. Trat die Kupplung, schaltete probehalber einmal durch und war Katharina dankbar, dass sie keine Stille aufkommen ließ.
»Als ich davon erfahren habe, war ich völlig zerstört. Obwohl ich es hätte wissen können. Wahrscheinlich wollte ich ihn für stärker halten, als er ist. Weshalb er sich stärker geben musste, als er war, bloß auf die falsche Weise. Erst jetzt, bei unseren kleinlichen Streitereien, wird mir klar, wie wenig er dem Bild entspricht, das ich mir von ihm gemacht hatte.«
»Er hat dich betrogen, zuerst. Warum wollen Frauen immer glauben, dass es ihre eigene Schuld ist?«, fragte Hartmut, als sie vom Parkplatz rollten. Obwohl er einiges getrunken hatte, spürte er nichts mehr davon. Stattdessen erreichte ihn die Vorhut seines schlechten Gewissens, ein kleiner Erkundungstrupp, der das Gelände sondierte, auf dem sich morgen die ganze Mannschaft breitmachen würde.
»In einem Punkt verfüge ich über mehr Lebenserfahrung als du«, sagte Katharina ein wenig kühler als zuvor. »Auch wenn Scheidungen wahrlich keine Seltenheit mehr sind – wer es nicht kennt, versteht die Desillusionierung nicht, die damit einhergeht. Alle sind Zeugen. Die Familien, die Freunde, allen muss man’s erklären, und selbst wenn man das kann, bleibt das Gefühl, auf ganzer Linie gescheitert zu sein. Unseren Sohn gibt es, weil wir einander geliebt haben, und jetzt lebt er abwechselnd bei zwei Menschen, die kleinlich um Besuchszeiten feilschen. Was hab ich damit gewonnen zu sagen: Er hat angefangen?«
»Wahrscheinlich hast du recht.« Hartmut steuerte den Wagen über die Kennedybrücke, dann die verwaiste Adenauerallee entlang. Angestrengt blickte er auf Tachometer und Straße und bog kurz hinterm Bundesrechnungshof ab in die Südstadt. Bei jedem Schalten ging ein Ruck durch den Wagen, und jedes Mal schluckte Hartmut die Entschuldigung hinunter, die ihm auf der Zunge lag. Einmal hielt neben ihnen ein Polizeiauto an der Ampel, und sie beide schauten verkrampft geradeaus, bises grün wurde. Das Gespräch verebbte. Als sie um halb zwölf in der Lessingstraße ankamen, wurden in einer Eckkneipe die Stühle hochgestellt. Schöne Altbauten und hohe Linden zu
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