Fliehkräfte (German Edition)
und geht ein paar Schritte durchs Zimmer. Studiert die Buchrücken in den Regalen. Einige amerikanische Romane glaubt er wiederzuerkennen. Dazu viel ethnologische Lektüre, hauptsächlich strukturalistischer Provenienz, was Carson Becker seinerzeit ebenso wenig begeistert hat wie Sandrines Dissertationsthema. Erst Ende der Achtzigerjahre, nachdem sie eine Weile von College zu College getingelt und der Trostlosigkeit der amerikanischen Provinz überdrüssig geworden war, ist sie zurückgekehrt. Abgesehen von den drei Jahren ihrer Ehe hat sie seitdem in diesen hellen Räumen in der Rue Lamarck gewohnt und sie zu einem Spiegel ihrer Person gemacht: unkonventionell und schnörkellos, voller Ballast und eine Wärme ausstrahlend, die nicht jeder spürt. Besucher kriegen teuren Bordeaux und müssen auf dem Boden sitzen. Was andere denken, ist deren Sache.
Hartmut nimmt das Bild in die Hand, das ihm am Nachmittag aufgefallen ist, den verwackelten und grünstichig gewordenen Schnappschuss von Sandrine und ihm. Sie lehnen gegen ein Geländer, das bei näherem Hinsehen nach der Reling eines Schiffes aussieht. Der Fotograf hat keine besondere Sorgfalt walten lassen. Vorne links ragt die Schulter einer weiteren Person ins Bild, und das junge Pärchen scheint im nächsten Moment aus dem Fokus der Kamera zu geraten. Beide halten Abstand zueinander und sehen aus, als wären sie gegen ihren Willen fotografiert worden. Im Hintergrund schimmert trübes Wasser.
Zwei Fremde, denkt er, wie gebannt vom Fehlen jeder Erinnerung an den Moment der Aufnahme. Der junge Mann auf dem Bild hat sich seit mehreren Tagen nicht rasiert und scheintzu glauben, dass die Stoppeln auf seinen Wangen ihn männlicher aussehen lassen. Tatsächlich liegt in seiner Miene etwas Verquältes und gleichzeitig Hochmütiges, das es schwer macht, Sympathie für ihn zu empfinden. Die Frau trägt die Haare offen und ein kurzes Kleid, dessen Muster an explodierte Blumenrabatten erinnert. Ist das Gewässer im Hintergrund der Mississippi oder einer der vielen Seen des Mittleren Westens? Als er Sandrine das Telefonat beenden hört, legt Hartmut das Bild zurück und stellt sich in die offene Balkontür. Draußen beginnt der Himmel über der Stadt violett zu leuchten. Die Spitze des Eiffelturms berührt beinahe den sichelförmigen Mond.
Beide Hände gegen den Türrahmen gestützt, atmet er mehrmals tief durch. Die letzten anderthalb Tage sind gleichzeitig schnell und langsam vergangen. Gestern Morgen war er derart verkatert, dass er die Abfahrt um einen Tag verschoben hätte, wäre nicht die Buchungsbestätigung des in der Nacht angeschriebenen Hotels bereits eingegangen. Also hat er lange geduscht und drei Tassen Kaffee getrunken, bevor er mit dem Taxi nach Beuel fuhr, um sein Auto zu holen. Ein sich über dem Siebengebirge zusammenbrauendes Gewitter machte die Luft schwer, als er schließlich wieder auf dem Parkplatz stand. Er schwitzte, ohne einen Finger zu rühren, fühlte Sehnsucht nach Marias Stimme und gleichzeitig Angst vor dem Klingeln seines Telefons. Sah sich um, als suchte er nach Spuren auf dem Boden, in der freien Parkbucht neben seinem Passat. Hier hatten sie gestanden in den wenigen Sekunden, in denen der scheinbare Beginn sein unausweichliches Ende fand.
Weniger als zwei Tage liegt es zurück, und wenn er ehrlich ist, hat er seitdem kaum daran gedacht.
5 Eine weitere Sekunde verging. Gegen den Wagen gelehnt, spürte Hartmut das Chaos seiner aufgewühlten Sinne und Trockenheit im Mund. Über Katharinas Kopf hinweg blickte er auf eine Reihe schimmernder Autodächer. Im angrenzenden Grundstück hing die Wäsche noch auf der Leine, wölbten sich Bettbezüge und weiße Laken in der kühlen Brise, die vom Rheinufer durch die Gärten wehte. Es geht nicht. Alles gesagt in einem Satz. Hartmut verlagerte das Gewicht aufs andere Bein und wartete auf seine Enttäuschung.
Am Nachmittag hatte er nachgedacht über den Punkt, wenn ihm alles egal sein und er sich einfach gehen lassen würde. Jetzt ließ Katharina die Hände über seinen Rücken wandern, so wie es Maria beim Abschied auf dem Hackeschen Markt getan hatte. Es war eine stille Sommernacht, in der er neben sich stand und den älteren Mann beobachtete, der geglaubt hatte, er könne mit einer jungen Frau Sex haben in diesem dunklen Hinterhof. Sein eigenes Tun, erlebt wie das Wirken einer anderen Kraft. Über Wochen und Monate hatte er gespürt, wie die Frustration in ihm zunahm, aber anstatt sich Bahn zu brechen,
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