Fliehkräfte (German Edition)
beiden Seiten. Katharina dirigierte ihn in die einzige freie Parkbucht, die für sie reserviert zu sein schien, auch wenn er kein Schild sah. Nicht weit von hier, oben im Bonner Talweg, hatten Maria, Philippa und er in den ersten Jahren gewohnt. Ein junges Paar mit kleinem Kind. Jetzt fiel ihm auf, dass er lange nicht mehr in der Südstadt gewesen war und die Gegend als weniger bürgerlich in Erinnerung behalten hatte.
»Bist du mir böse?«, fragte Katharina, als er den Motor abstellte.
»Überhaupt nicht. Es ist besser so.«
»Ich hätte es dir früher sagen sollen. Früher sagen müssen, und das wollte ich auch. Bloß ist es mir noch nie so schwer gefallen. Wenn man alleine lebt, fragt man sich, wozu Prinzipientreue gut sein soll. Außer dass sie das Alleinsein verlängert.«
Wir schulden einander nichts, wollte er sagen und schüttelte den Kopf. Es war bereits etwas falsch an der Art, wie sie jetzt versuchten, alles richtig zu machen, nicht enttäuscht oder gekränkt zu sein, weder Scham noch Reue zu empfinden. Machen wir uns nichts vor, dachte er grimmig, Prinzipientreue ist die Tofuwurst unter den Tugenden. Fleischlos und fade. Stattdessen sagte er lahm: »Ich halte es mir zugute, dass die Anziehung stärker war.«
»Okay.«
In Gedanken legte er beide Hände auf ihre Brüste. In Wirklichkeit verließen sie den Wagen und gingen zum Eingang ihres Hauses. Die letzten Körnchen rieselten durch den Hals der Sanduhr, dann erreichten sie die Tür, und er übergab den Autoschlüssel, wie eine symbolische Kapitulation.
»Na dann.« Mit zerwühlten Haaren stand Katharina vor ihm, und Hartmut steckte die Hände in die Taschen. Nebenan praktizierte das Analytische Gestalt-Institut, an den Zaun des kleinen Vorgartens waren Fahrräder gekettet.
»Balkonien«, sagte er und wies mit dem Kinn aufwärts. »Welcher ist es?«
»Dritter Stock. Wegen der Beurlaubung werde ich mich erkundigen und dir Bescheid geben.« Katharina hielt den Schlüssel in beiden Handflächen wie einen aus dem Nest gefallenen Vogel. »Es ist wegen deiner Frau, richtig?«
»Ja«, sagte er ohne Widerwillen. Entweder riet sie oder konnte es spüren, oder sie hatte an der Uni den üblichen Tratsch aufgeschnappt. »Vor allem ist es kompliziert. Aus vielen Gründen, nicht nur wegen meiner Verpflichtungen hier. Vielleicht reden wir darüber ein andermal.«
»Okay. Tun wir das.«
Mit dem letzten Kuss sagten sie einander gute Nacht, dann konnte er nur noch Bedauern lesen aus der Art ihres Gangs und dem kurzen Gefecht mit dem Türschloss. Er sah ihren Schemen im Flur verschwinden und verwarf den Gedanken, ein Taxi zurück nach Beuel zu nehmen. Hinter ihm lag ein langer Tag, und er musste zu Hause ein paar Dinge erledigen, zum Beispiel noch was trinken. Das Auto konnte er morgen holen. Langsam lief er die Lessingstraße hinauf und bog nach rechts ab, auf die Strecke, die er früher zur Uni gefahren war. Vor dem Eingang einer Kneipe verabschiedeten sich junge Leute voneinander, mit Küssen und innigen Umarmungen, als würden sie einander nie wiedersehen. Hartmut ging vorbei und fühlte sich aufgehoben im Gleichgewicht widerstreitender Gefühle. Einsam auf ebenso wohltuende wie schmerzliche Weise. Enttäuscht und erleichtert, aufgekratzt und müde. Als ihn in der Weberstraße ein leeres Taxi überholte, hob er die Hand und sah die Bremslichter aufleuchten. Im Fond empfing ihn der angenehme Geruch von Vanille und Leder. Dazu ein fragender Blick im Rückspiegel.
»Venusberg, bitte.« Hartmut schloss die Tür und schnallte sich an. Merkwürdig, wie der Entschluss vor ihm stand, ohne gefasst worden zu sein. Sandrine würde sich zwar wundern und zuerst misstrauisch nachfragen, aber wohin sollte er sonst fahren? Das letzte Zusammentreffen lag so viele Jahre zurück, dassihm nicht auf Anhieb einfiel, wie viele es waren. Sie hatten im Au Relais gegessen, unweit ihrer Wohnung. Eine Mahlzeit in freundschaftlicher, leicht melancholischer Atmosphäre. Gemeinsam hatten sie eine Flasche Wein getrunken und das Gespräch ferngehalten von allem, was ihnen auf dem Herzen lag. Vielleicht dachte er daran, weil er auch damals nicht gewusst hatte, warum sich sein schlechtes Gewissen nur zögerlich einstellte. Als absolvierte es eine lästige Pflichtübung.
»Schöner Abend«, murmelte er vor sich hin.
Nach dem Essen hatte Sandrine ihn zur Métro gebracht, mit vor der Brust verschränkten Armen und so schweigsam, wie sie nur wird, wenn sie traurig ist. An ihrem Haus vorbei,
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