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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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die Rue Lamarck hinunter. Er hatte die Fassade hochgeblickt und sich gefragt, ob er je wieder ihre Wohnung betreten würde. Sieben Jahre lag es zurück, oder acht?
    »Sind Sie Professor Hainbach?« Die Frage riss Hartmut aus seinen Gedanken. Automatisch setzte er sich aufrecht hin und hob den Kopf.
    »Das ... Der bin ich, ja.«
    »Sie erinnern sich nicht an mich. Ich hab nur ein Seminar bei Ihnen besucht. Vor zehn Jahren. Wittgenstein.« Das Gesicht, das der Fahrer ihm kurz zuwendete, kam Hartmut nicht bekannt vor. Ein Mann Anfang dreißig, mit randloser Brille und bereits schütterem Haar, dessen Miene auf zufriedene Weise gelangweilt wirkte.
    »Sie haben Philosophie studiert?«, fragte Hartmut.
    »Architektur. Philosophie war nur ein Hobby.«
    »Verstehe.« Er hätte es vorgezogen, in Ruhe seinen Erinnerungen nachzuhängen, aber da er nun mal zu einem ehemaligen Seminarbesucher ins Taxi gestiegen war, versucht er, das Beste aus der Situation zu machen. Den Tractatus hatten sie gelesen, erfuhr er auf Nachfrage. Sein Fahrer hieß Meier. Die Welt ist alles, was der Fall ist, wusste er, das habe ihm seinerzeit zu denken gegeben. Während er den Wagen durch Poppelsdorf lenkte, wo die Kneipen noch belebt waren, sprach Herr Meier in denRückspiegel wie in eine laufende Kamera. Im Grunde so etwas wie ein Gestrüpp aus Tatbeständen, auch wenn Wittgenstein es anders ausgedrückt habe. Der Versuch, das in eine endliche Zahl von Sätzen zu fassen, sei allerdings hoffnungslos. Genial und auf seine Weise heroisch, aber undurchführbar. Habe Wittgenstein wohl später selbst eingesehen. Das Gesicht im Rückspiegel schien auf eine Beurteilung zu warten.
    »Jetzt sind Sie Architekt?«, fragte Hartmut.
    »Mehr oder weniger.« Zurzeit keine feste Anstellung, seine Freundin sei schwanger und die Jobaussichten – »nun ja, wir alle lesen Zeitung«. Wie zum Beweis lag der Generalanzeiger aufgeschlagen auf dem Beifahrersitz. Was auf dem amerikanischen Immobilienmarkt geschehe, werde auch hier nicht folgenlos bleiben, sagte er. Hartmut hörte mit einem Ohr zu und wunderte sich, dass er heute bereits die zweite Unterhaltung dieser Art führte; die erste am Nachmittag mit Charles Lin, der vermutlich gerade Rilke las und von seinem Fahrer sagen würde, er habe eine sehr erfahrene geistige Stufe. Herr Meier griff in eine Tüte mit Salzgebäck neben der Handbremse und schien zu überlegen, ob er dem Fahrgast davon anbieten sollte.
    »Wenn man erst mal Kinder hat«, sagte er kauend, »ändert sich vieles. Richtig?«
    »Bei mir war es so.« Kurz erwog und verwarf Hartmut den Gedanken, den Witz mit den drei Geistlichen zu erzählen. Die Kneipen in der Clemens-August-Straße hatten sie hinter sich gelassen und hielten an einer roten Ampel. Hartmuts Blick fiel auf leere Bürgersteige und dunkle Schaufenster. Das Papiergeschäft an der Kreuzung stellte Utensilien für Schulanfänger aus. Philippa hatte eine blaue Schultüte gehabt, mit der silbernen Aufschrift ›Mein erster Schultag‹. Schwer zu sagen, warum ihm das jetzt einfiel, oder warum dieser Moment – der Anblick eines nächtlichen Schaufensters, das hinter ihnen zurückblieb, als die Ampel auf Grün schaltete – wie die Summe von vielen anderen erschien, die ihm vorangegangen waren. Zu was schließlich summieren sich Momente? Vielleicht sollte er mal wieder ein Seminar zu einem aus der Mode gekommenen Buch wie dem Tractatus anbieten. Darin wurde viel von Bestandteilen geredet, die sich zusammensetzten zu etwas, das so nicht erklärbar ist. Wann immer Hartmut sein zerlesenes Exemplar zur Hand nahm, sah er Stan Hurwitz vor der Tafel auf und ab gehen, gepackt von einer Erregung, die sich allmählich auf die Zuhörer übertrug. Lauter zweifelhafte Sätze, sachlich kühl und mystisch tief. 1.21 Eines kann der Fall sein oder nicht der Fall sein und alles übrige gleich bleiben. Konnte es das wirklich, oder war es im Gegenteil so, dass alles anders wurde, wenn eins sich änderte? Schließlich ging es um einen Zusammenhang, kein Kompositum.
    »Als meine Freundin mir gesagt hat, dass sie schwanger ist   ...« Herr Meier hatte ein Thema gefunden, das ihn stärker beschäftigte als der frühe Wittgenstein. »Stundenlang lag ich nachts wach und dachte: Oh Gott, und jetzt? Klar hab ich mich gefreut, aber schlafen konnte ich nicht. Wollen Sie’s genau wissen? Seitdem fahre ich wieder Taxi, nachts. Wie als Student.«
    Noch einmal begegnete Hartmut Herrn Meiers ausdruckslosem Blick, und mit einem Mal

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