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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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Büro gekommen ist. Wir saßen in der kleinen Sitzecke neben der Tür, ich weiß nicht mehr, worum es ging. Wahrscheinlich wollte er einen seiner wohlformulierten Gemeinplätze loswerden. Dass man sich manchmal ins Unvermeidliche schicken muss. Der Kompromiss als Ausdruck praktischer Vernunft, irgend so ein Käse. Sag selbst, ist dir je ein Mensch begegnet, der auf so wohlwollende Weise herablassend sein kann? Es berührt einen nicht einmal unangenehm, aber was mir in Erinnerung geblieben ist, war mein Gedanke: Es ist unmöglich für mich, ihn zu überzeugen. Was ich anzubieten habe, ist für ihn nurSpielgeld. Mit seinen Münzen wird seit Jahrhunderten gehandelt. Er würde nie auf die Idee kommen, mal draufzubeißen und festzustellen, dass es Blech ist.«
    »Breugmann hat über dich gesagt, niemand sei auf so höfliche Weise renitent wie du. Das klang beinahe respektvoll.«
    »Wenn ich ehrlich bin, habe ich ihn trotz allem gemocht. Irgendwie. Wer benutzt heute noch Wörter wie ›nassforsch‹ oder ›beckmesserisch‹.«
    »Lass uns zum Strand gehen«, sagt Hartmut und leert sein Glas. Über den Häusern tauchen rote Schlieren am Himmel auf, und er will nicht länger über die Uni reden. Immer noch klingt ihm die merkwürdige Betonung im Ohr, mit der Maria am Telefon von einem Fehler gesprochen hat. Es macht ihm in diesem Moment bloß keine Angst. Für sie und ihn muss es einen Weg geben. Muss!
    »Ich komme ja«, sagt Bernhard eilig, als Hartmut einfach aufsteht.
    Es sind nur ein paar Schritte die Promenade hinauf. ›À louer‹ steht hier und da in den Fenstern leerer Apartments. Sobald sie oben auf der Düne angelangt sind, rollt der Atlantik in gleichmäßiger Bewegung auf sie zu. Rauschen und Kinderstimmen füllen die salzige Luft. Eine breite, leicht konkave Küste zieht sich nach Norden und Süden und verschwimmt in gelblichem Dunst. Mit dem Finger weist Bernhard auf den nördlichen Strandabschnitt: »Gehen wir da lang, dann kommen wir auf dem Rückweg zum Hotel.«
    Eine Holztreppe führt hinab. Jugendliche sitzen auf den Stufen und essen Pizza aus fettfleckigen Kartons. Nur vereinzelt tummeln sich Leute im Wasser, meistens Ball spielende junge Kerle, deren Rufe über den Strand hallen. Weiter draußen gleiten Surfer über die brechenden Wellen. Der Wind weht kräftig und angenehm kühl aus nordwestlicher Richtung. Kein Schiff am Horizont.
    »Wie bitte?«, fragt Hartmut, weil der Wind Bernhards letzte Äußerung verweht hat. Mit den Schuhen in der Hand gehen sieaufs Wasser zu, und als er sich umblickt, kommt es ihm vor, als würden die Häuser auf den Dünen langsam davontreiben. Sonnenstrahlen spiegeln sich in den Fensterscheiben. Die Schatten von Bernhard und ihm sind zwanzig Meter lang und dünn wie Giacometti-Figuren.
    »Beharrungskräfte, hab ich gesagt.« Bernhard hat die Hemdsärmel aufgerollt und weiches Abendlicht im Gesicht. »Darin hat Breugmann mich an meinen Vater erinnert. Kultivierte Männer, richtige Bildungsbürger. Kennen ihre Klassiker oder können sie jedenfalls zitieren. Mein Vater war kein Kirchgänger, aber am Sonntag hat er einen Schlips getragen, auch zu Hause. Dann gab’s Wein zum Mittagessen und feine Kuchen zum Dessert. Als Kind fand ich das normal, jetzt kommt es mir bemerkenswert vor: die Übereinstimmung. Er hat sein Leben getragen wie einen maßgeschneiderten Anzug. Oder umgekehrt, das Leben ihn, keine Ahnung. Jedenfalls war er genauso, wie er sein musste. Letztes Jahr ist er übrigens gestorben.«
    »Das wusste ich nicht. Tut mir leid.«
    »Wenn ich an ihn denke, frage ich mich, was für ein Gefühl das war. Beruht diese Übereinstimmung auf einer Leistung, die man erbringt, oder geschieht es einfach? Ins Leben passen, seinen Ort haben. Ich weiß nur, dass es in seinem Fall keine Borniertheit war. Aber was sonst?«
    Draußen über dem Wasser fliegt eine Möwe gegen den Wind, mit ruhigen Schlägen und ohne sich von der Stelle zu bewegen. Statt etwas zu erwidern, nickt Hartmut nur. Solche Fragen hat er sich tausend Mal gestellt und keine Antwort gefunden.
    »Früher sind wir zusammen gewandert«, sagt Bernhard. »Zwei oder drei Mal im Jahr für ein Wochenende. Mit Rucksäcken und unseren Schweizer Taschenmessern. Weil er selten zu Hause war, musste er mir unterwegs beibringen, was er für wesentlich hielt. Würde man das heute als Text lesen, käme kein Mensch auf die Idee, es seien die Siebziger gewesen. Es war zeitlos. Jetzt ist es so was von vorbei.«
    Hartmut schlägt die

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