Fließendes Land (German Edition)
dem »7 km« gearbeitet. Dann ist sie zusammengebrochen und hat die Uni geschmissen. Ich sehe keine Alternative, sagt sie. Und ich will Andrej helfen. Alleine hätte er es hier schwer. Und ist es allein als Frau nicht gefährlich? Doch, sagt sie. Es ist sehr gefährlich. Und im Winter ist es kalt. Wir haben keine Heizung. Letzten Winter ist eine Frau erfroren, weil sie eingeschlafen ist. Sie nickt. Aber Julia Esperanza hat einen Anorak und keine Angst.
Heute werden wir Herrn Dobrjanski treffen, lächelt Kirill. Also doch noch. Wir gehen auf das Fest der Siedlung » AG Avangard-D«, wo die ehemaligen Sowchosearbeiter wohnen, deren Generaldirektor und Gönner Victor A. Dobrjanski dies nun unter westlichen Spielregeln ist. Soweit es die für Oligarchen gibt. Sein Gesicht flattert auf großen, über den Schulplatz gespannten Sonnenblumentransparenten in den Himmel. Darunter auf einer enormen Bühne schluchzt ein schmaler Junge, gerade noch vor dem Stimmbruch, Volksweisen in ein Mikrophon; eine schwarzafrikanische Band in ukrainischer Tracht rappt »No woman no cry«; Jugendliche in Kostümen der Zarenzeit tanzen einen Wiener Walzer. Derweil wird auf der Festwiese Selbstgekochtes verzehrt. Eine 5-Liter-Wodkaflasche kreist, statt eines Korkens hat sie ein Stück Maiskolbenkern als Verschluß. Alles Naturprodukte, strahlt eine blonde Frau mit Goldzähnen und zeigt erst auf die tropfenden Honigwaben, die man auskauen und dann ausspucken muß, dann auf den Eier-Spinat-Strudel und endlich auf den Wodka, 76%. Der Pope trägt einen Bund Gladiolen wie ein Baby und überreicht ihn dem »Weißen Stern«, der Schlagersängerin Oksana Bilosir, einer »Verdienten Artistin der Ukraine«. Er küßt einen Hefezopf und schneidet ihn an. Fast unauffällig kreuzen Bodygards – wie schöne Matrosen – das Terrain. Mädchen gehen, als wollten sie den Gesetzen der Statik widersprechen, auf höchsten High Heels, ein Gürtel liegt über ihren Lenden als Minirock. Ältere Frauen zeigen mit Leidenschaft Decolletée; Männer jeden Alters tragen Trainingshosen. »Siehst du diese Brüste, sie fallen ihr fast aus dem Kleid«, sagt ein schlacksiger Kerl zu seinem Kollegen und sieht einer Schönheit hinterher. »Ich sehe«, antwortet der, »und deshalb will meine Irina nicht alleine nach Hause fahren.«
Dann kommt ein Schwan im weißen Miederkleid, umgeben von zwei französisch gekleideten Kindern und einer beflissenen Gesellschafterin, und die Menge teilt sich. Schon ist ein Gartentisch mit Wein und Melone beladen, mit Salaten und Spießchen, Hühnerbrüsten und Fisch, eingelegten Gurken, Tomaten, Oliven. Die beiden Frauen prosten sich verlegen mit den Plastikbechern zu. Die beiden Kinder zupfen an Stengeln mit rosaroter Zuckerwatte. Als sie sie zur Seite legen, bekommen sie zwei rosa Eistüten.
Ein Tusch, und der »Weiße Stern« steigt von der Bühne herunter und geht auf Victor A. Dobrjanski zu, den sie mit dieser Geste wie ein Scheinwerfer beleuchtet. Er lächelt und nimmt die Sonnenbrille nicht ab. Nun grüßt er nach rechts und links. Ein gedrungener Mann mit Bauch im kurzärmeligen Streifenhemd. Er flaniert über den Platz. Er geht zu dem Schwan im Miederkleid. Er streicht seinen Enkeln über den Kopf.
Bitte vielleicht doch ein kurzes Interview, Herr Dobrjanski? Ihr »7 km«, welche Idee! Was für ein Management! Erzählen Sie, wie es dazu kam! Er küßt mir die Hand. Er lächelt. Er entschwindet mit Tochter, Enkeln, Gesellschafterin zu einer seiner schwarzen verspiegelten Limousinen, Mercedes S 500, Kennzeichen: BH 0101 BK .
Zurück bleibt das schöne Essen, fast unberührt. Die vollen Eistüten schmelzen auf dem Tisch. Auf der Wiese vergeht rosa die Zuckerwatte.
III Handwerk
Nach Marienwerder gehen. Schreiben im Kloster
1.
Schon von weitem sah sie den schwingenden Mantel. Die Äbtissin nickte. Zusammen gingen sie durch die Bahnhofsunterführung. Die Äbtissin fuhr durch die Peripherie der Stadt, an Parkanlagen vorbei. Ein Grünschock. Da, wo sie herkam, war jetzt noch alles weiß von hohem Schnee. Monatelang hatte sie kein Grün gesehen. Vielleicht, dachte sie, sehe ich jetzt zum ersten Mal Grün, weil ich zum ersten Mal einen Herbst, einen Winter im Gebirge verbracht habe. Sie fuhren durch Feuchtigkeit. Es regnete noch nicht, oder es regnete nicht mehr. Die Äbtissin sprach gegen die Scheibe. Im Kloster sei vieles durcheinander. Umbauarbeiten, und vier Menschen seien gegangen. Alle über Ostern. Das dauere dann eine Zeit, bis man
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