Fließendes Land (German Edition)
Abschied nehmen, ein wenig eifersüchtig sein. Von nun an ist der Autor ein Leser unter vielen. (Auch wenn er in diesem Fall ein bißchen mehr Erfahrung hat.) Seine Intimität ist eine öffentliche Sache geworden.
Es ginge auch anders. Mit demselben Fingerdruck, man muß den Cursor nur ein wenig weiter auf ein anderes Bildchen schieben, ließe sich der Text löschen. Es wäre möglich, ein Manuskript an sein Ende zu bringen, ohne es als Buch zu teilen. Zumindest gedacht habe ich diesen Gedanken schon. Aber Kunst hat einen Grund. Eine Notwendigkeit, die fast kreatürlich nach Kommunion sucht.
Ich ging noch zur Schule, da stand ich einmal in einer fremden Stadt vor einer Zeichnung von Käthe Kollwitz. Man sah einen kleinen Jungen barfuß an einer Scheibe. Hinter der Scheibe standen gestaffelt viele Schuhe. Die Legende sagte nur »Schuhe!«. Ich ahnte, was das Bild meinte, und spürte zugleich, daß es mir etwas anderes sagte. Die Zeichnung erzählte die Geschichte von einem armen Kind vor einem Schaufenster, in dem ganz nah am Glas und unerreichbar Schuhe lagen, die es brauchte und nicht bekam. Aber ich sah durch dieses Verständnis hindurch ein für mich stärkeres Bild: Ich sah ein Kind, das vor einem Berg von aufgereihten Schuhen in Verzweiflung gerät, weil es unter all den vielen Schuhen sein eigenes Paar nicht findet. Ich war kein Kriegskind, ich hatte kein Problem mit Schuhen. Ich war ein Flüchtlingskind der zweiten Generation; ich hatte ein Problem mit der Identität. Ich hatte einen anderen Grund. Kunst (und das unterscheidet sie von der Werbung, die ein Ziel hat) tendiert zur Kippfigur, zum unendlichen Vexierbild. Denn es ist die Rezeption des Einzelnen, die sie immer wieder – auch gegen die Zeit, auch an der Intention des Künstlers vorbei – erschafft.
Die Frage, warum ich »Flughafenfische« geschrieben habe, stellt sich mir nicht mehr. Mit der Existenz des Textes ist die Frage nach seinem Grund aufgehoben. Der eine oder andere Leser wird den Roman verstehen, wie ich ihn verstehe (oder nicht verstehe). Und auch wenn der Leser in dem Text etwas liest, was ich nicht lese (wenn er aber einen Grund hat, ihn zu lesen!), dann gibt das doch mir, die ich ihn geschrieben habe, ein Gefühl der Sicherheit. Ja, des Glücks, wie es nur ein gelungenes Wagnis schenkt. Denn unter dem Artistenhimmel ist der Autor der Trapezkünstler, der springt und fliegt. Und der Leser ist der Trapezkünstler auf der korrespondierend schwingenden Stange gegenüber, der ihn auffängt.
Damit der Autor wieder springen kann: beim Schreiben, wenn er einen Grund zuläßt, der nicht absehbar ist und noch im letzten Moment, wenn er losläßt, mit einem Mausklick.
Gegenwelten – Weltgegenden
Der Mausklick öffnet das Fenster zum Text oder die Website in die Welt. Die Panzer in der Wüste sind so nah wie die Aufgabe, gute Sätze zu schreiben. Eine Fingerspitzenbewegung weiter, und es schneit auf der Motta Naluns, Unterengadin. Ich klicke die Gondelstation weg und gehe in die Küche. Durch das Fenster sehe ich in ein Geviert von mittelalterlichen Fachwerkhäusern, schwäbische Provinz. Ich reiße die Packung Capellini (kurze Kochzeit) auf. Die dünnen Nudelstangen rutschen aus dem Karton; das Wasser brodelt hoch. Gleich mit der Gabel umrühren, sonst kleben sie zusammen. Wenn mir jetzt das richtige Adjektiv einfällt, muß ich es mir merken.
Die Koordinatensysteme der Aufmerksamkeit wechseln. Tisch decken, Parmesan und Butter, Gläser für Apfelsaft. Ich schneide eine Gurke auf. Im Hintergrund summt der Computer wie ein Zeitzünder. Erst wenn es unten an der Tür klingelt, fahre ich ihn herunter. Manchmal kommt noch ein Satz, bevor die Kinder die Treppe hinauftrampeln.
Jeden Tag freue ich mich auf das Familienmittagessen, das meine Arbeit stört. Einmal habe ich auf einem Podium zum Internationalen Frauentag bemerkt, daß verbindliche Ganztagsschulen für mich keine gute Kunde seien. Die Moderatorin von damals macht noch heute einen Bogen um mich; vermutlich habe ich auch Schlimmeres geäußert. Liberi et Libri, das ist wie Ein- und Ausatmen. Schreiben entwurzelt, muß entwurzeln, und Kinder erden. Sie können erden. Und dann wieder wirft dich ein Kind um wie nichts sonst im Leben, und das Schreiben wird zum Halt. Beides gehört für mich zusammen. (Hat nicht Hugo von Hofmannsthal von der Heiligen Theresa erzählt, wie sie am Herd stand und eine Vision nahen fühlte, sich ihr aber nur so weit überließ, daß ihr darüber die Fische in
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