Fließendes Land (German Edition)
Protagonisten für die Raumidee. Ein Aquarist, der für das Aquarium zuständig ist, war sicher der beste Augenzeuge, um sich dem Innenleben so eines in Glas gefaßten Meeres zu nähern. Ich wollte ihn als eine Figur, die vor allem sieht und nicht berührt. Ein wenig autistisch, weltfremd, in einer scheinbar harmlosen Weise zufrieden. Er liebt seine Fische und lebt mit ihnen. Ich gab ihm ein polares Gegenüber, eine irrlichternde Magazinphotographin, die als Reisende dauernd unterwegs ist. Beide Figuren verbindet das Beobachten. Und als ich an die Photographin dachte, schien es mir selbstverständlich, sie auch einige der Szenen erzählen zu lassen, die ich über die Jahre auf Reportagenreisen erlebt hatte, abseitige Begegnungen, die vom jeweiligen Reportagenthema weggeführt hätten, Nebengeschichten, die für mich vielleicht Hauptgeschichten waren. War da schon etwas wie Grund? Da ich in diesem Flughafen kaum äußere Handlung haben würde und auch keine wollte, brauchte ich einen stärkeren Wechsel der Töne; eine dritte Stimme lag nahe. Und wieder half mir der Raum. In Flughäfen gibt es Raucherfoyers, in denen Menschen hinter Scheiben sitzen; es sind dem Aquarium verwandte Glaskörper. Über drei Räume also entstanden drei Figuren: Tobias Winter, der Aquarist, Elis, die vielfliegende Photographin, und der Raucher. Mit den drei Stimmen waren zugleich drei unterschiedliche Erzählhaltungen möglich: Tobias Winter spricht distanziert über seine Fische; Elis erzählt schon persönlicher, sie erinnert sich an Reisen, an eine Liebe zu einem Piloten, und der Raucher, ein Biochemiker, betrinkt sich und spult einen inneren Monolog ab, schnell durchlaufende Szenen seiner Ehe. Dieser ältere Mann, ein Professor, dessen Hobby Fraktale sind, sollte die Figur sein, die am meisten reflektiert. Und Fraktale, Strukturen aus sich selbst ähnlichen Mustern, wurden ein Kompositionsprinzip des Romans. Zugleich gab mir der Raucher, da er zunehmend betrunken wurde, die Möglichkeit, ungebundene Assoziationen zu schreiben. Und über ihn kam eine gegenläufige Dynamik in den Text: Zwischen Tobias und Elis entwickelt sich Empathie; der Raucher sieht zurück auf eine Zweisamkeit, die scheitert. Damit waren die Gezeiten der Liebe gesetzt.
Natürlich habe ich nicht jeden Tag am Text geschrieben. Aber in vier, fünf Jahren verging wohl kaum ein Tag, an dem ich nicht an die Parallelwelt des entstehenden Romans gedacht hätte. Er veränderte meine Alltagswahrnehmung. Das Mädchen in der Schlange an der Supermarktkasse, hatte sie nicht etwas von Elis: das Federn der Turnschuhe, die staksigen Beine, das schmale Seidenbändchen des Unterhemds, das an der braunen Schulter vor dem Ärmelansatz des T-Shirts herausschaut, der kurze schwingende Rock, grün mit weißen Punkten? Wenig davon kommt im Roman vor; aber die Momente des Mädchens waren eine Option. Ich recherchierte. Da war dieser Pilot im Text, von dem Elis dauernd sprach. Ich hörte mich um. Und tatsächlich, es gab einen Lufthansakapitän, den man fragen konnte, einen Freund von Freunden. Nach vielen Gesprächen hatte ich zwei, drei Szenen, mit denen ich arbeiten konnte, er sagte das eine oder andere Wort, das ich zuvor nicht gekannt hatte. So dehnte sich meine Realität nach meinem Roman.
Nun wollte ich das Aquarium in Heathrow noch einmal sehen. Eine Freundin schrieb einen formvollendet höflichen englischen Brief. Aber ich wurde als Autorin nicht in den Transitbereich eingelassen: »I would strongly advice Dr. Overath not to come to the airport for this purpose, as our security team will move her on.« Also buchte ich als Touristin einen Flug, um als Reporterin in den Sicherheitsbereich eines Flughafens zu kommen. Mit British Airways von Stuttgart nach Glasgow, das hieß Umsteigen in London Heathrow und Aufenthalt im Transit. Nervös durchlief ich die Fluchten der Hallen. Und ich fand das Aquarium nicht. Ich fragte. Doch erst der dritte Verkäufer, in einem Dutyfree-Shop, wies nickend in die Richtung, aus der ich gerade kam. Ich war an dem Aquarium vorbeigegangen, ohne es zu bemerken. Nun stand ich davor: vier, fünf Fische, ein paar Steine. Von einer schlecht versteckten Pumpe stiegen ein paar Luftbläschen auf. Das kann jetzt nicht wahr sein, dachte ich.
Und dann dachte ich: Also gut, ich werde das Aquarium schreiben, an das ich mich erinnert habe. Das schönste Aquarium, das es nicht gibt.
Ich besuchte Aquarien in Berlin, Amsterdam, London, Basel, Hannover (»Sie spüren uns«,
Weitere Kostenlose Bücher