Fließendes Land (German Edition)
Besuch.
Kommt, sagt sie, das ist mein Paradies. Sie führt in die Tiefe des weißen Raumes. Monumental auf einem freien Felsen gezeichnet provoziert »Thalia« in einer Metamorphose mit Korallenhaar ihre ernstere Schwester »Polyhymnia«; auf einer Staffelei schlägt eine abstrakte, weiß-schattige Kreismalerei in der Mitte ein Auge auf und wird zum unerwarteten Blick. Gisèles Dinge, Gisèles Bilder sind in einer Verwandlung begriffen. Dreht sie die Leinwand mit dem »Cock-eyed«-Tierkopf um 180 Grad, dann lacht er nicht mehr, sondern sieht nachdenklich aus. Auf der Leinwand daneben senkt, in den gleichen Meer- und Strandfarben gemalt, eine Taube auffordernd den Kopf. Sie haben etwas miteinander, sagt Gisèle, seht Ihr?
Die hellen Abschlußflächen der Aktenschränke unter den schrägen Fensterfronten sind Spielflächen für Ensembles von Muscheln, Knochen, Blättern, Rinden, Steinen, Seeigeln, Schwämmen. Und jeder Sims, Absatz oder Abstelltisch wird zur Bühne von Fundstücken, die überall ein von Gisèle inszeniertes Eigenleben beginnen. Kinder spielen so.
Das Leben hat sich hier ausbreiten dürfen, sagt sie, als staune sie über diese simultanen Konstellationen. Ich habe das Atelier geschenkt bekommen von meiner Tante Paula. Das war natürlich ein tolles Geschenk für ein siebzigjähriges Mädel! Und die Freunde haben gesagt, nun sie ist doch schon siebzig, ist das nicht vielleicht ein wenig übertrieben, so ein Atelier! Aber das sei jetzt 22 Jahre her. Sie kichert. Und ich genieße es jeden Tag. Und jeder Tag ist mir zu kurz. Am Boden stehen Vasen mit getrockneten Blumen, Orchideen blühen, Lianen ranken sich an Kakteen entlang, unbekannte tropische Pflanzen streuen unermüdlich winzige, karmesinrote Streusel. Ist es nicht ungeheuerlich, was wir Menschen erleben dürfen? Sie sieht über ihre Schätze. Sie legt die Fingerspitzen auf eine Rinde. Schaut, da habe ich gedacht, das sieht doch aus wie ein Rock. Und da gab ich ihr noch ein Blatt dazu und Blüten und schon war da eine Tänzerin. Einmal war sie blond, jetzt ist sie schon grau. Und hier dieses Gespräch – seht Ihr, wie dieser Vogel seinen langen Schnabel zu dem Frosch in die Schale steckt? Die Rosenblätter sind uralt. Zehn Jahre sicher sitzen die zwei schon so da.
Ihr Atelier ist ein weißer Dschungel, eine Kunstnatur, in der die Windung einer aufgelesenen Schnecke zur malerischen Initialzündung wurde für eine abstrakte Spiralbewegung und ein ausgeblichener Ziegenknochen die Urgestalt für eine moderne kykladische Göttin. Und von der Leinwand herunter sprechen die Gebilde ihrer Artistik zurück zu ihren natürlichen Ausgangsformen aus Stein, Schildpatt, Holz, Kalk, Feder, Chitin, Stroh. Ihre Strandgut-Argonauten fahren in einer Holzschale, gefüllt mit Sand, ein vom Pinselabwischen blaßbunter Malerlappen in seinen Falten ist ihnen das aufgewühlte Meer. Sie kommen aus den Anfängen der europäischen Kultur, und sie reisen zu den Ausgangsstoffen des Kreatürlichen zurück. Oder seht doch einmal diese Vasen, auf einmal zieht Gisèle einen Katalog über zypriotische Keramikfunde hervor. Sie blättert durch expressive Strichgeweihe, wild-eckige Rümpfe und Punktaugen. Wir kennen diese Tiere von Picasso, aber sie sind viel älter. Was ist früh und was ist spät? Was hat der Mensch vor 2000 Jahren angefaßt, und was hat er gestern gegriffen? Sie schließt und öffnet ihre kleine, sonnenfaltige Hand, als sei das, um was es letztlich gehe, immer elementar. Und als läge in dieser Bewegung Trost und verschwenderischer Mut.
Zwischen Kopien von griechischen Portraitbüsten steht ein jüngerer Kopf. Das ist der Buri, sagt sie, den habe ich einmal gemacht, der hat auch hier gewohnt. Von dem habe ich noch Geschenke aus den letzten Kriegsjahren, handgeschriebene Gedichte, genähte Puppen, Theaterstücke. Und von den anderen auch, das ist alles oben, ich zeig es Euch. Sie wischt sich die schulterlangen, glatten Haare aus dem Gesicht. Und auf einmal ist sie zurück in jener Männerwelt oder Knabengemeinschaft um Wolfgang Frommel, die sie als Portraitmalerin finanziell trug und als Frau mutig begleitete. In seinem autobiographischen Bericht »Untergetaucht unter Freunden« über die Jahre 1942 bis 1945, in denen er bei Gisèle versteckt war, nennt Claus Victor Bock sie eine »Räuberbraut«.
Es ist ja nicht nur um das physische Überleben gegangen, sagt sie. Denkt doch einmal, das waren Buben zwischen 14 und 20 Jahren, die monatelang, manche jahrelang nicht
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