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Fließendes Land (German Edition)

Fließendes Land (German Edition)

Titel: Fließendes Land (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angelika Overath
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aufrecht.
    Manuel Goldschmidt ist der einzige, der seit 1944 in diesem Haus wohnt. Es dämmert. Wir sitzen an einem Tisch am Fenster. Unter uns kreuzen sich die Herengracht und die Leidsegracht. In den vorhanglosen Fenstern gegenüber gehen die Lichter an und spiegeln sich im Wasser. Der Himmel ist hoch. Wegen dieses Blicks hatte Gisèle 1940 die drei Räume mit dem schmalen Flur gemietet, heruntergekommene Bürozimmer, die nicht zum Wohnen gedacht waren. 1942 zog Wolfgang Frommel fest ein. Gisèles Zimmer wurde die Küche, hinter einem Vorhang. Hier lebte man in der Enge mit den versteckten Kindern und Jugendlichen, mal waren es zwei, mal drei, oft nur vorübergehende, wechselnde. Manche waren deutsch-jüdisch wie Claus Victor Bock, der drei Jahre hier untertauchte, andere christlich-holländische Jungen, denen ein Abtransport in deutsche Arbeitslager drohte. Hinter mir stehen deckenhoch die Bücher von Wolfgang Frommel; hinter Manuel Goldschmidt steht Wolfgang Frommels Sterbebett.
    Wir haben ihn bis zuletzt gepflegt, Claus kam aus London zurück, wo er Professor war. Alle kamen. Nur am Ende hatten wir nachts professionelle Pfleger.
    Herr Goldschmidt, Sie sagten im Film von Cees van Ede, das letzte Kriegsjahr, das Jahr, in dem Sie hier versteckt lebten, sei das schönste Jahr Ihres Lebens gewesen. Wie kann ich das verstehen?
    Ich war Halbjude, ich war nicht so gefährdet, ich hatte einen Paß ohne das »J«. Es hatte für uns damals auch etwas wie Räuber-und-Prinzessin-Spielen. Wolfgang hat alles gewußt, aber er hat es uns nicht gesagt. Er sprach von der Gefahr der Arbeitslager, daß es dort kalt sei und so. Er sprach nicht von KZ s und dem Tod. Diese Wohnung war ein intensiver Schutzraum. Wir lasen. Wir beschäftigten uns mit Kunst, mit Literatur. Wir waren eine Gemeinschaft. Es wurde viel gemeinsam vorgelesen. Wir schrieben alle oder malten. Man mußte nicht gut sein, aber man mußte diese Erfahrung machen, kreativ zu sein.
    Nach dem Krieg waren Sie der engste Vertraute von Wolfgang Frommel. Sie sind viel mit ihm gereist?
    Manuel lehnt sich zurück, sein Gesicht liegt im Schatten.
    Ich habe ihm geholfen. Ich bin ein treuer, ein dienender, ich bin ein unsexueller Mensch.
    Das gibt es nicht.
    Er lächelt scheu, daß ich mich schäme. Das Zimmer versinkt im Nachtlicht der Gracht. Ich bitte, durch die Wohnung gehen zu dürfen. Bücher, Bilder, alte Fayencen. Hinter einem Bord steht ein weißes Klavier.
    Das ist das Klavier?
    Er nickt. Bei einer Razzia hatte sich Buri im letzten Augenblick darin verstecken können. Und Claus hatte einen ungenügenden tschechischen Paß gezeigt, worauf ihn der Gestapo-Mann mitnehmen wollte. In diesem Augenblick sei Wolfgang Frommel aufgestanden, habe dem Mann fest in die Augen gesehen und gesagt: DAS können Sie nicht machen! Worauf der sich räusperte, auf dem Absatz umkehrte, seinen Leuten: Alles in Ordnung zurief und verschwand. Solch unerklärliche Momente erzählen auch andere von Wolfgang Frommel.
    Der in der Dämmerung versinkende Raum scheint gesättigt von Geschichten. Manuel Goldschmidt ist der letzte, der ihn belebt.
    Nach dem Krieg entstand das Castrum Peregrini?
    Nach dem Krieg hat Wolfgang seine Freundesadressen durchgesehen. Das wurden dann die ersten Abonnenten für die Zeitschrift. Wolfgangs Flaschenpost. Das erste Heft war den toten Freunden gewidmet.
    Die Zeitschrift Castrum Peregrini, eine deutschsprachige Zeitschrift aus Amsterdam, erscheint seit 1951 unregelmäßig fünfmal im Jahr. Ihre Auflage liegt unter 1000, aber sie ist global; sie wird auf allen Kontinenten gelesen. Und auch heute gäbe es noch junge Männer, die sich für Stefan George interessierten, für dieses Gemeinschafts- und Kreisdenken unter dem Horizont von Dante, dem christlichen Mittelalter, Goethe, Nietzsche. Da komme immer wieder Post. Manche schickten Gedichte, in Georgeschrift mit schwarzer Tinte, andere möchten ein Volontariat machen. Ein Junge ist jetzt dabei, der mußte in der Schule Gedichte besprechen, und alle Lyriker waren schon vergeben, nur George war noch zu haben. Da hat er ihn eben genommen. Und heute beginnt seine E-mail-Adresse mit der George-Zeile »komm in den totgesagten park«. (Was würde es jetzt bringen, hier mit Homoerotik anzufangen?)
    Im Herbst und im Frühling treffen sich die Freunde zu gemeinsamen Festen. Sie tragen Kränze aus Efeu oder weißen Narzissen. Wer sich in den Räumen der Herengracht 401 bewegt, wird immer wieder an Türrahmen, über Bilderecken

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